In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal ein Zar mit seiner jungen Zarin. Der Zar hatte seine junge Zarin sehr lieb, er war wie von Sinnen vor Liebe zu ihr. Die Schwester des Zaren dage-gen haßte sie, und häufig verleumdete sie die junge Frau bei ihrem Bruder. Doch der glaubte ihr nicht. Und nun fährt er in seinen Zarenangelegen-heiten eines schönen Tages in ein anderes Zaren-reich und nimmt seinen Schwager mit. Als sie fort waren, gebar die Zarin kurze Zeit später einen Knaben. Die Schwägerin aber schrieb kurzerhand an ihren Bruder, den Zaren, und an den Bruder der Zarin, daß „Eure Frau und Schwester einen sehr schönen Knaben geboren hat, ihn aber da-nach genommen und aufgegessen hat.“ Der Zar schrieb einen Brief und sagte: „Rührt meine Frau bis zu meiner Ankunft nicht an! Wenn ich wieder da bin, werde ich selbst mit ihr abrechnen.“ Die Schwester aber erbrach den Brief und steckte in den Umschlag ein anderes, von ihr vorbereitetes Papier, daß „der Zar befohlen hat, dir für ein so gemeines Verbrechen, daß du dich mit anderen herumtreibst, die Arme bis zu den Ellenbogen ab-zuschneiden und dich mit deinem neugeborenen Balg aus dem Zarenschloß zu verjagen.“ Da setz-ten die Wächter des Zaren sie in eine dunkle Kutsche, fuhren sie weit weg in einen tiefen Wald, setzten sie dort ab und fuhren wieder in ihre Resi-denzstadt. Das Kind aber hatten sie ihr an die Brust gebunden, und so lief sie mit ihm durch den dunklen Wald. Sie hatte weniger Hunger, als daß der Durst sie quälte – es verlangte sie sehr zu trinken. Und auf einmal kommt sie an einen schnellen Fluß, und sie hätte so gern getrunken, aber das war auf keine Weise möglich; wenn sie sich vorgebeugt hätte, hätte sie das Kind ertränkt, weil sie keine Hände hatte und das Kind nicht festhalten konnte. Und sie betete zu Gott, und auf einmal vernahm sie eine Stimme: „Trink, es wird nichts geschehen.“ Und sie begann zu trinken, und auf einmal fiel ihr das Kind ins Wasser; da schrie sie: „Herr! Wenn ich’s gewußt hätte, ich hätte lieber nicht getrunken, denn ich habe mein Kind ertränkt!“ Und wieder vernahm sie eine Stimme: „Nimm das Kind aus dem Wasser.“ – „Ich würde es nehmen, aber ich habe keine Hän-de!“ – „Nimm’s nur mit deinen Stümpfen!“ Und als sie die abgehackten Arme ins Wasser tauchte, da wuchsen ihr plötzlich wieder Arme und Hände an, und sie nahm ihr Kind.
Lange irrte sie in der weiten Welt umher, und schließlich kam sie in eine Stadt, wo sie sich als Dienstmagd verdingte. Und der Knabe wuchs nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde. Und nach ziemlich langer Zeit kommt auf einmal zu diesem reichen Herrn, wo sie lebte, der Zar und kommen ihr Bruder und die Schwägerin gefahren. Sie erkannte sie sofort, aber sie konnten sie nicht erkennen. Sie gab sich ihnen dort nicht zu erkennen, weil sie noch gar zu weit vom Hause entfernt waren. Als ihr Knabe herange-wachsen war, schon gut mit ihr gehen konnte, nahm sie den Knaben, kündigte ihrer Herrschaft und beschloß, wieder in ihre Residenzstadt zu zie-hen. Und sie kaufte sich einen Hirsch und eine Hirschkuh und ritt auf dem Hirsch und der Hirsch-kuh durch die tiefen Wälder. Und wo sie nun zum Füttern haltmachte, bat sie immer: „Verkauft mir doch für den Hirsch einen Laib Brot und für die Hirschkuh eine Schale Glut!“ Und man antwortet ihr: „Wie soll denn die Hirschkuh das fressen? Es wird ihr doch zu heiß sein.“ – „Und als beim Zaren die Zarin ihr Kind gegessen hat, ist ihr gewiß weh gewesen, aber sie hat’s doch gegessen.“9 Und auf diese Weise nun erreichte sie schließlich ihre Re-sidenzstadt. Als sie in die Stadt kam, hielt sie na-he beim Schloß an und sagt wieder: „Verkauft mir für den Hirsch einen Laib Brot und für die Hirsch-kuh eine Schale Glut!“ Man sagt ihr: „Wie soll denn die Hirschkuh das fressen, es wird ihr doch zu heiß sein.“ – „Und als die Frau des Zaren ihr Kind gegessen hat, ist ihr gewiß weh gewesen, aber sie hat’s gegessen.“
Und die Kunde von dieser Frau kam bald dem Zaren zu Ohren. Der Zar befahl sie zu sich ins Schloß und sagte: „Wanderin, du hast, wie ich se-he, viel erlebt; erzähle uns bitte!“ Sie sagt zu ihnen: „Ich habe viel erlebt, aber ich habe Angst, es könnte jemandem ein Ärgernis sein.“ – „Nein, es wird niemandem ein Ärgernis sein.“ – „Gebt mir Euer Zarenwort, wenn ich erzähle, daß mich nie-mand unterbricht!“ Der Zar war damit einverstan-den. Da beginnt sie zu sprechen: „Es lebte ein Zar mit seiner jungen Zarin. Er hatte eine Schwester. Der Zar liebte seine Frau sehr, die Schwester aber dagegen haßte sie; der Neid hatte sie gepackt, daß der Bruder seine Frau sehr liebt, und oft ver-leumdete sie die Zarin bei ihrem Bruder, sie wäre untreu.“ Die Schwester hörte das und sagte: „Das lügst du!“ Der Zar aber sagte: „Fahre fort“, und der Schwester gebot er zu schweigen. Sie spricht weiter: „Einmal fährt der Zar mit seinem Schwa-ger in seinen Zarenangelegenheiten ins Ausland. Und in seiner Abwesenheit gebar die junge Zarin einen schönen Sohn. Die Schwester aber schrieb ihm einen Brief, daß ‚deine junge Frau es schlimm treibt, dir untreu geworden ist und viele andere Liebhaber gehabt hat, und weil ihr der neugebo-rene Sohn hinderlich war, hat sie ihn genommen und aufgegessen.’“ Und die Schwester sagt wie-der: „Du lügst!“ Aber der Zar gebot seiner Schwe-ster zu schweigen und sagte: „Wanderin, setze deine Erzählung fort!“ – „Und da wurde der Zar auf seine Frau böse und befahl, ihr die Arme bis zu den Ellbogen abzuschneiden, sie in eine dunkle Kutsche zu setzen und in die dunklen Wälder zu fahren, den wilden Tieren zum Fraß. Das Kind aber hatten sie ihr an die Brüste gebunden. Und als sie nun durch den tiefen Wald ging, quälte sie starker Durst. Als sie zu einem Fluß kam, wollte sie trinken, weil sie aber keine Hände hatte, hätte sie das Kind ertränken können. Da betete sie zu Gott: ‚Herr! Wie sehr möchte ich trinken!’ Sie ver-nahm eine Stimme: ‚So trinke!’ Als sie trank, ver-lor sie das Kind von der Brust. Da begann sie wie-der, sich über ihr Schicksal zu beklagen, und sagte: ‚Hätte ich’s gewußt, dann hätte ich nicht getrunken, aber jetzt habe ich mein Kind er-tränkt.’ Wieder vernimmt sie eine Stimme: ‚Nimm dein Kind mit deinen Stümpfen!’ Und als sie ihre abgehackten Arme ins Wasser tauchte, da wuch-sen ihr wieder Arme und Hände an. Und ich – ich bin ebendiese Frau, und dies hier ist mein Mann, und das mein Bruder, und das meine Schwägerin, die so grausam an mir gehandelt hat. Aber weil ich nicht wußte, wie ich zu euch gelangen konnte, habe ich mir einen Hirsch und eine Hirschkuh ge-kauft. Für den Hirsch habe ich um Brot gebeten, für die Hirschkuh aber um eine Schale Glut. Und die Leute haben zu mir gesagt: ‚Wie soll sie’s denn fressen, es ist doch zu heiß?’ Und ich habe ihnen geantwortet: ‚Die Zarin hat doch auch ihr Kind gegessen, es ist ihr weh gewesen, aber sie hat’s gegessen. So auch die Hirschkuh; es ist zwar heiß, aber sie muß es fressen.’“ Da sperrte der Zar seine Schwester für dieses Verbrechen ins Gefängnis. Seine junge Frau aber hielt er noch mehr in Ehren als früher. Und seinen Sohn lehrte er das Lesen und Schreiben. Und zu Ehren all dessen gab er ein Fest für alle Welt; auch mich luden sie ein, ich trank Bier und Wein, ‘s ist um den Bart geronnen, der Mund hat nichts abbekommen.
Die Zarin ohne Arme
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