In einem kleinen Dorf lebten einmal zwei Bauern, zwei leibliche Brüder; der eine war arm, der ande-re reich. Der reiche zog in die Stadt, baute sich ein großes Haus und wurde ein Kaufmann; der arme aber hat bisweilen nicht einmal ein Stück Brot, und seine Kinder – eines kleiner als das an-dere – weinen und betteln um etwas zu essen. Es geht ihm wie den Fischen unter der Eisdecke: vom Morgen bis zum Abend plagt er sich nach oben zu kommen, aber immer vergebens. Einmal sagt er zu seiner Frau: „Ich will doch in die Stadt gehen und den Bruder bitten, ob er uns nicht ein wenig helfen will.“ Er kam zu dem Reichen: „Ach, lieber Bruder! Hilf mir ein wenig in meiner Not: Weib und Kinder sitzen ohne Brot und haben ta-gelang nichts zu essen!“ – „Arbeite diese Woche bei mir, dann will ich dir helfen.“ Was tun? Der Arme machte sich an die Arbeit, fegt den Hof, striegelt die Pferde, fährt Wasser und hackt Holz. Nach einer Woche gibt ihm der Reiche einen Laib Brot. „Hier, das ist für deine Arbeit!“ – „Auch da-für Dank!“ sagte der Arme, verneigte sich und wollte schon nach Hause gehen. „Warte noch! Be-suche mich doch morgen mal und bring deine Frau mit: morgen ist doch mein Namenstag.“ – „Ach, Brüderchen, was soll ich da? Du weißt ja selbst: zu dir kommen Kaufherren in Lederstiefeln und Pelzen, ich aber gehe in Bastschuhen und ei-nem schäbigen grauen Rock.“ – „Das macht nichts, komm nur! Auch für dich wird Platz sein.“ – „Gut, Brüderchen, ich werde kommen!“
Der Arme kam nach Hause, gab seiner Frau den Laib Brot und sagt: „Höre, Weib! Für morgen sind wir beide eingeladen.“ – „Was heißt eingeladen? Von wem?“ – „Von meinem Bruder. Er hat morgen Namenstag.“ – „Warum nicht, gehen wir!“ Am Morgen standen sie auf und gingen in die Stadt, kamen zum Reichen, wünschten ihm Glück und Gesundheit und setzten sich auf eine Bank. Am Tisch saßen schon viele vornehme Gäste; der Hausherr bewirtet sie aufs beste, seinen armen Bruder aber und seine Frau hat er völlig verges-sen – gibt ihnen nichts; sie sitzen da und sehen nur zu, wie die anderen trinken und essen. Das Mahl war zu Ende; die Gäste kamen hinter dem Tisch hervor und bedankten sich beim Hausherrn und der Hausfrau, und der Arme gleichfalls – stand auf von seiner Bank und verneigt sich vor dem Bruder bis zum Gürtel. Die Gäste machten sich betrunken auf die Heimfahrt, sind lustig, lär-men und singen Lieder. Der Arme aber geht mit leerem Magen zurück. „Komm“, sagt er zu seiner Frau, „auch wir wollen ein Lied singen!“ – „Ach du Dummkopf! Die anderen singen, weil sie gut ge-gessen und viel getrunken haben; und was hast du für Grund zu singen?“ – „Nun, immerhin bin ich bei meinem Bruder zum Namenstag gewesen; ich schäme mich, ohne ein Lied nach Hause zu gehen. Wenn ich singe, wird jeder denken, ich bin auch bewirtet worden…“ – „Dann singe, wenn du willst; ich tue nicht mit!“ Der Bauer stimmte ein Lied an, da schien ihm, er hört zwei Stimmen. Er hört auf und fragt seine Frau: „Hast du eben leise mitgesungen?“ – „Was fällt dir ein? Nicht einmal in Gedanken!“ – „Ja, wer denn dann?“ – „Ich weiß nicht“, sagte die Frau. „Sing mal weiter, ich will aufpassen!“ Er fing wieder zu singen an; singt al-lein, und doch hört man zwei Stimmen; er blieb stehen und fragt: „Bist du es, Sorge, die mit-singt?“ Die Sorge ließ sich vernehmen: „Ja, Bau-er! Ich bin es, die mitsingt.“ – „Nun, Sorge, dann wollen wir zusammengehen!“ – „Gehen wir, Bau-er! Ich weiche jetzt nicht mehr von dir.“
Der Bauer kam nach Hause, da ruft ihn die Sor-ge ins Wirtshaus. Er sagt: „Ich habe kein Geld!“ – „Ach du einfältiger Bauer! Wozu brauchst du denn Geld? Sieh doch, du hast einen Schafspelz an, und wozu ist der nütze? Bald ist Sommer, dann trägst du ihn sowieso nicht mehr! Komm, wir gehen ins Wirtshaus und lassen den Schafspelz dort…“ Bau-er und Sorge gingen ins Wirtshaus und vertranken den Schafspelz. Am anderen Tage jammerte die Sorge, vom Rausch tut ihr der Kopf weh, und wie-der ruft sie den Bauern zum Branntwein. „Kein Geld“, sagt der Bauer. „Aber wozu brauchen wir Geld? Nimm Schlitten und Wagen, das reicht für uns!“ Es ist nichts zu machen, der Bauer kann die Sorge nicht loswerden: er nahm Schlitten und Wagen, zog sie zum Wirtshaus und vertrank sie zusammen mit der Sorge. Am Morgen jammerte die Sorge noch mehr und ruft den Bauern zu ei-nem Katertrunk, der Bauer vertrank auch Egge und Pflug. Noch war kein Monat vergangen, da hatte er alles durchgebracht: sogar seine Hütte hatte er dem Nachbarn verpfändet und das Geld ins Wirtshaus getragen. Die Sorge macht sich wieder an ihn heran: „Komm mit, komm mit ins Wirtshaus!“ – „Nein, Sorge, mach was du willst, aber ich habe nichts mehr, was ich forttragen kann.“ – „Was heißt nichts? Deine Frau hat zwei Sarafane: einen läßt du ihr, der andere aber muß vertrunken sein!“ Der Bauer nahm den Sarafan, vertrank ihn und denkt: „Jetzt ist gar nichts mehr da. Weder Haus noch Hof, weder Schafspelz noch Sarafan!“
Am Morgen wachte die Sorge auf, sieht, daß beim Bauern nichts mehr zu holen ist, und sagt: „Bauer!“ – „Was, Sorge?“ – „Hör zu: Geh zum Nachbarn und bitte ihn um Ochsen und Wagen.“ Der Bauer ging zum Nachbarn und bittet: „Gib mir für eine Weile ein Paar Ochsen und einen Wagen: ich will dafür, wenn’s sein muß, eine ganze Woche für dich arbeiten!“ – „Was willst du damit?“ – „In den Wald nach Holz fahren!“ – „Dann nimm; aber lade nicht zu schwer auf!“ – „Wie kannst du das nur denken, mein Ernährer!“ Er brachte das Ochsengespann an, setzte sich zusammen mit der Sorge auf den Wagen und fuhr aufs freie Feld. „Bauer“, fragt die Sorge, „kennst du auf diesem Felde den großen Stein?“ – „Wie sollte ich ihn nicht kennen!“ – „Wenn du ihn also kennst, dann fahr geradewegs zu ihm!“ Sie kamen an die Stelle, hielten an und kletterten vom Wagen. Die Sor-ge befiehlt dem Bauern, den Stein hochzuheben; der Bauer hebt an, die Sorge faßt mit zu; jetzt haben sie ihn oben, unter dem Stein aber ist eine Grube ganz voll Gold. „Nun, was guckst du?“ sagt die Sorge zum Bauern, „trag’s nur schnell auf den Wagen!“
Der Bauer machte sich an die Arbeit und schüt-tete das Gold auf den Wagen, auch den letzten Dukaten holte er aus der Grube heraus; sieht, daß nichts mehr darin ist, und sagt: „Sieh doch einmal nach, Sorge, ist wirklich kein Geld mehr dringe-blieben?“ Die Sorge beugte sich vor: „Wo? Ich kann nichts sehen!“ – „Dort hinten in der Ecke glänzt etwas!“ – „Nein, ich sehe nichts!“ – „Klette-re in die Grube, dann wirst du’s sehen!“ Die Sorge kletterte in die Grube; kaum war sie unten, da wälzte der Bauer den Stein darauf. „So wird’s besser sein!“ sagte der Bauer. „Nehme ich dich mit, bittere Sorge, dann vertrinkst du, wenn auch nicht so bald, sogar dieses Geld!“ Der Bauer kam nach Hause, schüttete das Geld in den Keller, brachte dem Nachbarn die Ochsen zurück und überlegte, wie er sein Leben einrichten könnte; er kaufte Holz, baute sich ein großes Haus und lebte zweimal so reich wie sein Bruder.
War nun lange oder kurze Zeit vergangen, – je-denfalls fuhr er in die Stadt, den Bruder mit seiner Frau zum Namenstag einzuladen. „Da hast du was Rechtes ausgedacht!“ sagte der reiche Bruder zu ihm. „Hast selber nichts zu essen und willst noch Namenstag feiern!“ – „Nun, es gab eine Zeit, da hatte ich nichts zu essen, aber jetzt – Gott sei’s gedankt! Ich habe nicht weniger als du; komm nur und sieh selbst!“ – „Nun gut, ich komme!“ Am andern Tag machte sich der reiche Bruder mit seiner Frau auf den Weg und fuhr zum Na-menstag; da sehen sie: der arme Habenichts hat ein neues Haus, hoch, wie mancher Kaufmann es nicht besitzt! Der Bauer lud sie an seinen Tisch, bewirtete sie mit allen erdenklichen Leckerbissen und gab ihnen alle erdenklichen süßen Schnäpse und Weine zu trinken. Der Reiche fragt den Bru-der: „Sag mir doch, wie bist du so reich gewor-den?“ Der Bauer erzählte ihm treuherzig, wie sich die bittere Sorge an ihn herangemacht und wie er mit ihr all sein Hab und Gut bis auf den letzten Rock im Wirtshaus vertrunken hatte: nur Leib und Seele waren noch sein eigen; wie ihm die Sorge schließlich den Schatz auf dem Felde gezeigt, wie er diesen Schatz genommen hat und die Sorge losgeworden war.
Der Reiche wurde neidisch: „Ich will doch aufs freie Feld fahren“, denkt er, „den Stein hochheben und die Sorge herauslassen – soll sie den Bruder an den Bettelstab bringen, damit er sich nicht er-dreistet, vor mir mit seinem Reichtum zu prah-len.“ Er schickte seine Frau nach Hause und jagte selbst aufs Feld; kam an den großen Stein, wälzte ihn zur Seite und beugt sich vor, um nachzuse-hen, was dort unter dem Stein ist. Er hatte den Kopf noch nicht richtig vorgebeugt – da war die Sorge schon herausgesprungen und saß ihm auf dem Nacken: „Ah“, schreit sie, „du hast mich hier umbringen wollen! Nein, jetzt weiche ich um nichts in der Welt mehr von dir!“ – „Höre, Sorge!“ sagte der Kaufmann, „das war ja nicht ich, der dich unter den Stein gesteckt hat…“ – „Und wer denn, wenn nicht du?“ – „Mein Bruder hat dich druntergesteckt, und ich bin gerade deswegen hergekommen, um dich herauszulassen!“ – „Nein, du lügst! Einmal hast du mich betrogen, ein zwei-tesmal sollst du mich nicht betrügen!“ Die Sorge setzte sich dem reichen Kaufmann fest auf den Nacken; er brachte sie nach Hause, und in seiner Wirtschaft ging nun alles drunter und drüber. Die Sorge machte sich schon am frühen Morgen an ihr Werk; jeden Tag ruft sie den Kaufmann zum Ka-tertrunk; viel Hab und Gut ging den Weg ins Wirtshaus. „Das ist ein kostspieliges Leben“, denkt der Kaufmann bei sich, „mir scheint, die Sorge hat sich genug mit mir vergnügt; es wäre an der Zeit, sich von ihr zu trennen, aber wie?“
Er dachte nach und dachte nach und hatte ei-nen Einfall: er ging auf den weiten Hof, schnitzte zwei Eichenkeile zurecht, nahm ein neues Rad und trieb von der einen Seite her einen Keil fest in die Nabe hinein. Er kommt zur Sorge: „Warum liegst du immer auf der faulen Haut, Sorge?“ – „Was soll ich denn sonst anfangen?“ – „Was anfangen! Komm mit auf den Hof, Blindekuh spielen!“ Der Sorge war’s nur recht; sie gingen auf den Hof hin-aus. Zuerst versteckte sich der Kaufmann – die Sorge hatte ihn gleich gefunden; danach war die Sorge an der Reihe, sich zu verstecken: „Nun“, sagt sie, „mich wirst du nicht so bald finden. Ich zwänge mich in jeden Spalt hinein!“ – „Was re-dest du da!“ antwortet der Kaufmann. „Du kannst nicht einmal in dieses Rad hineinkriechen, ge-schweige denn in einen Spalt!“ – „Ich kann nicht in das Rad hineinkriechen? Paß mal auf, wie ich mich verstecke!“ Die Sorge kroch in das Rad; der Kaufmann, nicht faul, trieb von der anderen Seite her einen Eichenkeil in die Nabe, hob das Rad empor und warf’s zusammen mit der Sorge in den Fluß. Die Sorge ertrank, und der Kaufmann lebte von da an wieder wie früher.
Die Sorge
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