Die Lügenziege

Es waren einmal ein Großväterchen und ein Großmütterchen. Mit ihnen zusammen lebten auch die beiden Enkelsöhne. Eines Tages fuhr das Großväterchen zum Markt und kaufte eine Ziege. Es brachte die Ziege nach Hause und befahl am nächsten Tag dem ältesten Enkelsohn, die Ziege zu weiden.
Der Junge weidete die Ziege von Morgen bis zum Abend und trieb sie dann nach Hause. Als er mit der Ziege am Haustor anlangte, stand schon das Großväterchen in roten Stiefeln davor und fragte:
„Herzliebes Ziegelein mein, Ziegelein fein, aßt du was, trankst du was?“
Die Ziege entgegnete:
„Hab’ Busch und Graben überwunden, doch nur ein Hähnchen Gras gefunden.
Und dünkte mich schon froh und reich mit einem Tröpfchen aus dem Teich.“
„Ist das wirklich alles, was du gegessen und getrunken hast?“ fragte das Großväterchen.
Die Ziege nickte. Da wurde das Großväterchen sehr wütend auf den ältesten Enkelsohn und jagte ihn aus dem Hause.
Am nächsten Tag schickte es den anderen Enkelsohn. Der Junge weidete die Ziege von früh bis spät und trieb sie dann nach Hause. Als er mit ihr am Hoftor anlangte, stand schon das Großväterchen in roten Stiefeln davor und fragte:
„Herzliebes Ziegelein mein, Ziegelein fein, aßt du was, trankst du was?“
Wieder entgegnete die Ziege:
„Hab’ Busch und Graben überwunden, doch nur ein Hähnchen Gras gefunden.
Und dünkte mich schon froh und reich mit einem Tröpfchen aus dem Teich.“
„Ist das wirklich alles, was du gegessen und getrunken hast?“ fragte darauf das Großväterchen.
Die Ziege nickte.
Da jagte das Großväterchen auch diesen Enkelsohn aus dem Hause.
Am übernächsten Tag schickte das Großväterchen sein Weib die Ziege weiden. Die Frau trieb die Ziege auf die Weide und blieb mit ihr den ganzen Tag dort. Als sie am späten Abend zurückkehrte, stand schon das Großväterchen in den roten Stiefeln vor dem Hoftor und fragte:
„Herzliebes Ziegelein mein, Ziegelein fein, aßt du was, trankst du was?“
Und wieder entgegnete die Ziege:
„Hab’ Busch und Graben überwunden, doch nur ein Hälmchen Gras gefunden.
Und dünkte mich schon froh und reich mit einem Tröpfchen aus dem Teich.“
„Ist das wirklich alles, was du gegessen und getrunken hast?“ fragte das Großväterchen.
Die Ziege nickte auch diesmal, und das Großväterchen jagte nun sogar sein Weib aus dem Hause.
Am vierten Tag brachte es selbst die Ziege auf die Weide und blieb den ganzen Tag in ihrer Nähe. Am Abend trieb Großväterchen die Ziege nur bis zum Weg und ging allein voran. Es stellte sich in den roten Stiefeln vor das Tor und fragte:
„Herzliebes Ziegelein mein, Ziegelein fein, aßt du was, trankst du was?“
Das Großväterchen staunte nicht schlecht, als die Ziege auch ihm entgegnete:
„Hab’ Busch und Graben überwunden, doch nur ein Hälmchen Gras gefunden.
Und dünkte mich schon froh und reich mit einem Tröpfchen aus dem Teich.“
Da schrie das Großväterchen die Ziege an:
„Du Lügenziege! Das ist also dein Dank für all meine Mühe!“ Wütend ging das Großväterchen nun zum Schmied und bat diesen, ihm das Messer zu schleifen, denn es wollte die Lügenziege schlachten. Aber dieser gelang es, sich loszureißen und in den Wald zu entkommen. Im Wald erblickte sie die Hütte des Hasen und – husch! – war sie schon drin und versteckte sich auf dem Ofen.
Als der Hase nach Hause kam, schnupperte er und merkte, daß Besuch da war. Und er fragte erstaunt:
„Wer ist in meinem Haus?“
Die Ziege aber, die noch immer auf dem Ofen saß, sprach:
„Lügenziege werd ich genannt!
Bin ich erst außer Rand und Band, pfleg mit den Hufen ich zu grüßen, möcht alles auf die Hörner spießen!
Versuchst du es, mich zu verjagen, wird dir dein letztes Stündlein schlagen!“
Der Hase erschrak gar sehr, lief aus dem Haus und setzte sich unter eine Eiche. Lange saß er dort und weinte:
Ein Bär kam des Weges und fragte:
„Warum weinst du, Häschen-lauf-feldein?“
„Wie kann ich denn anders als weinen, lieber Bär? Ein furchtbares Tier hält mein Haus besetzt!“
Der Bär erwiderte:
„Ich jage es hinaus!“
Und sogleich rannte der Bär zur Hütte und fragte:
„Wer ist in des Hasen Hütte?“
Da ließ sich die Ziege vom Ofen herab vernehmen:
„Lügenziege werd ich genannt!
Bin ich erst außer Rand und Band, pfleg mit den Hufen ich zu grüßen, möcht alles auf die Hörner spießen!
Versuchst du es, mich zu verjagen, wird dir dein letztes Stündlein schlagen!“
Als der Bär diese Worte hörte, erschrak er sehr und lief davon.
„Nein“, sprach er, „nein, Häschen-lauf-feldein, ich vermag dir nicht zu helfen. Auch ich fürchte mich.“
Der Hase setzte sich wieder unter die Eiche und weinte. Da kam ein Wolf gelaufen und fragte:
„Warum weinst du so sehr, Häschen-lauf-feldein?“
„Wie kann ich denn anders als weinen, lieber Wolf? Ein furchtbares Tier hält mein Haus besetzt!
Der Wolf entgegnete:
„Ich jage es hinaus!“
„Wie willst du es wagen, das Untier aus dem Haus zu jagen, wenn selbst der Bär es nicht vermochte?“
Aber der Wolf versetzte:
„Es wird mir schon gelingen!“
Der Wolf lief zur Hütte und fragte:
„Wer ist in des Hasen Hütte?“
Die Ziege, die es sich noch immer auf dem Ofen wohl sein ließ, erwiderte:
„Lügenziege werd ich genannt!
Bin ich erst außer Rand und Band, pfleg mit den Hufen ich zu grüßen, möcht alles auf die Hörner spießen!
Versuchst du es, mich zu verjagen, wird dir dein letztes Stündlein schlagen!“
Nun erschrak auch, der Wolf und machte sich eilends davon.
„Nein“, sprach er, „nein, Häschen-lauf-feldein, ich vermag dir nicht zu helfen. Auch ich fürchte mich.“
Entmutigt setzte sich der Hase wieder unter die Eiche und weinte. Ein Fuchs kam dahergelaufen, sah den Hasen und fragte:
„Warum weinst du so sehr, Häschen-lauf-feldein?“
„Wie kann ich denn anders als weinen, lieber Fuchs? Ein furchtbares Tier hält mein Haus besetzt!“
Der Fuchs versetzte:
„Ich jage es hinaus!“
„Wie willst du es wagen, das Untier aus dem Haus zu jagen, wenn weder der Bär noch der Wolf es vermochten?“
Doch der Fuchs erwiderte:
„Es wird mir schon gelingen!“
Der Fuchs lief zur Hütte und fragte:
„Wer ist in des Hasen Hütte?“
Vom Ofen herab antwortete ihm die Ziege:
„Lügenziege werd ich genannt!
Bin ich erst außer Rand und Band, pfleg mit den Hufen ich zu grüßen, möcht alles auf die Hörner spießen!
Versuchst du es, mich zu verjagen, wird dir dein letztes Stündlein schlagen!“
Da packte auch den Fuchs die Angst.
„Nein“, sprach er, „nein, Häschen-lauf-feldein, ich vermag dir nicht zu helfen. Auch ich fürchte mich.“
Der Hase setzte sich wieder unter die Eiche und weinte und weinte. Nun kam ein Krebs des Weges gekrochen und fragte: „Warum weinst du so sehr, Häschen-lauf-feldein?“
„Wie kann ich denn anders als weinen, lieber Krebs? Ein furchtbares Tier hält mein Haus besetzt!“
Der Krebs versetzte:
“Ich jage es hinaus!“
„Wie willst du es wagen, das Untier aus dem Haus zu jagen, wenn weder der Bär noch der Wolf noch der Fuchs es vermochten?“
Doch der Krebs erwiderte:
„Es wird mir schon gelingen!“
Der Krebs kroch in die Hütte und fragte:
„Wer ist in des Hasen Hütte?“
Wieder entgegnete die Ziege vom Ofen herab:
„Lügenziege werd ich genannt!
Bin ich erst außer Rand und Band, pfleg mit den Hufen ich zu grüßen, möcht alles auf die Hörner spießen!
Versuchst du es, mich zu verjagen, wird dir dein letztes Stündlein schlagen!“
Als der Krebs das hörte, kroch er furchtlos auf den Ofen und sprach:
„Ich bin nur ein kleiner Krebs!
Paß auf, wie ich mit meiner Schere, dich, Ziege, jetzt das Fürchten lehre!“
Und er zwickte die Ziege so furchtbar mit der Schere, daß sie laut aufmeckerte, geschwind vom Ofen herabsprang, aus der Hütte lief und nie mehr gesehen ward.
Nun konnte der Hase, nachdem er dem Krebs von Herzen gedankt hatte, in seine Hütte zurückkehren und lebt bis zum heutigen Tage darin.

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