Der Schwager der Sonne

Es war einmal ein armer Tagelöhner, der nichts besaß. Er verdingte sich bei einem Gutsherrn auf ein Jahr für ein krätzekrankes Pferd. Am Georgstag trieb er die Herde auf die Weide und nahm sein krätzekrankes Pferd mit. Der Wolf fragte den heiligen Georg, was er fressen solle. Da antwortete dieser: „Geh hin und friß dort das krätzekranke Pferd mit der Glatze!“
Als der Tagelöhner das hörte, verschmierte er seinem Pferd die Glatze. Das Pferd hatte nämlich eine Glatze.
Da kam der Wolf zum heiligen Georg. „Solch ein Pferd gibt es nicht“, sagte er.
„Dann geh und friß das, was keine Glatze hat.“
Da wusch der Tagelöhner seinem Pferd die Glatze wieder sauber. Der Wolf kam nochmals zurück und sagte:
„Es gibt keines ohne Glatze.“
„Dann geh“, sagte der heilige Georg, „und friß irgendeins, ganz gleich, ob es eine Glatze hat oder nicht, nur die Krätze muß es haben!“
Der Wolf ging hin und raubte das Pferd.
Der Tagelöhner diente bis zum Ende des Jahres und sagte: „Ich gehe jetzt, weil der Wolf mein Pferd gefressen hat.“
Der Bauer wollte ihm ein besseres Pferd geben, aber er wollte nicht und ging davon.
So ging er und ging bis in die Nacht hinein. Er kam zu einem Bauern und sagte: „Nimm mich für die Nacht auf!“
Man ließ ihn ein.
„Vielleicht kannst du bei mir als Tagelöhner bleiben?“ sagte der Bauer.
„Gut“, sagte der Tagelöhner, „ich bleibe!“
Sie vereinbarten, daß er für einen Streifen Weizenfeld arbeiten sollte. So blieb er.
Der Tagelöhner arbeitete und arbeitete. Der Bauer säte auch für ihn Weizen. Der Weizen wuchs gut und trug schon Ähren. Da zerschlug der Hagel den Weizen, und der Wind trug ihn da-von, und der Tagelöhner ging auch von diesem Bauern fort.
„Ich werde nicht mehr bei dir dienen“, sagte er. Der Bauer begann ihn zu überreden. „Ich gebe dir noch mehr Weizen, bleibe nur!“ sagte er.
„Nein“, sagte der Tagelöhner, „ich bleibe nicht!“
Er ging fort. Er ging und ging, ging und ging, und nirgends war eine Hütte oder sonst etwas. Er bekam großen Hunger, es war aber nichts zu essen da. Plötzlich sah er, wie ein Mann Heu auf einen Heuschober warf. Er hatte noch nicht viel ge-schafft, als die Sonne unterging. Der Tagelöhner bat den Mann, ihm zu essen zu geben.
„Hilf mir, das Heu auf den Schober zu werfen, dann gebe ich dir auch zu essen!“ sagte der Mann.
„Gut.“
Sie begannen das Heu auf den Heuschober zu werfen. Sie warfen und warfen, wurden aber vor Einbruch der Nacht nicht fertig. Da gab ihm der Bauer nichts zu essen, sondern schlug ihn. Der Tagelöhner ging fort und weinte. Da sah er plötz-lich ein Mädchen in einem Busch sitzen, das ein Brötchen im Haar hatte. Er schlich heran, nahm ihr das Brötchen weg und begann es zu essen. Das Mädchen aber sah sich um. „Antworte“, sagte sie, „du, der mein Brötchen gegessen hat! Bist du alt, so sollst du mein Vater werden, bist du jung, so sollst du mein Mann werden, bist du eine alte Frau, so sollst du meine Mutter werden, und bist du ein junges Mädchen, so sollst du meine Schwester werden!“
Er antwortete, und das Mädchen nahm ihn zum Manne. „Ich habe eine Hütte, in der mein Onkel Schweine aufzieht. Gehen wir und bitten ihn, die Schweine herauszulassen, damit wir dort leben können.“
Der Tagelöhner kam zu dem Onkel und bat ihn: „Onkelchen, laß die Schweine aus der Hütte, wir wollen dort wohnen!“
Der Onkel wollte erst nicht. Da kam der Tagelöhner ein zweites und ein drittes Mal. Schließlich hatte der Onkel Mitleid mit ihm und ließ die Schweine heraus. Als die Schweine herausliefen, nahmen sie den ganzen Schmutz mit. So wurde die Hütte sauber wie Glas. Das Paar zog ein und wohnte darin. Sie lebten gut und in Frieden, und der Gutsherr begann sie zu beneiden. Ebenso auch der Bauer, ihr Onkel. Der Bauer beneidete ihn wegen der Hütte, und der Gutsherr wegen der Frau. Sie berieten miteinander.
„Schaffen wir ihn aus der Welt“, sagte der Gutsherr, „dann bleibt für dich eine schöne Hütte und für mich ein schönes Frauchen!“
Sie wollten ihn so sterben lassen, daß er vollkommen verschwand. So beschlossen sie, ihm zu befehlen, daß er alle Ungeheuer und Tiere der ganzen Welt bei dem Gutsherrn auf dem Hof versammeln sollte.
Der Mann kam nach Hause und weinte. Seine Frau fragte: „Warum weinst du?“
„Wie sollte ich nicht weinen, wenn der Gutsherr befohlen hat, daß ich auf seinem Hof alle Ungeheuer und Tiere der ganzen Welt versammeln soll? Wenn ich sie zusammenhole, komme ich doch bestimmt ums Leben.“
„Weine nicht“, sagte sie, „ich helfe dir, und dir wird nichts geschehen!“
Sie gab ihm ein Stöckchen. „Wenn du mit diesem Stöckchen winkst“, sagte sie, „so kommen sie alle zusammen.“
Er ging hinaus. Er winkte mit dem Stöckchen, und alle Ungetüme und alle Tiere aus der ganzen Welt versammelten sich bei dem Gutsherrn auf dem Hof. Der Gutsherr erschrak und bat ihn, sie zurückzujagen. Da winkte er wiederum mit dem Stöckchen, und alle liefen zurück, die einen hierhin, die anderen dorthin.
Da beriet jener Gutsherr wiederum mit dem Onkel, und sie befahlen dem Mann, eine Geige zu bauen, zu deren Spiel die ganze Welt tanzen muß.
Der Mann kam nach Hause und weinte. Seine Frau fragte: „Warum weinst du?“
„Wie sollte ich nicht weinen, wenn der Gutsherr sich über mich lustig macht! Er hat mir befohlen, eine Geige zu bauen, zu deren Spiel die ganze Welt tanzen muß.“
Sie sagte: „Warum nicht!“
Sie band ihm ein Garnknäuel an den Gürtel und sagte: „Wo das Garnknäuel hinrollt, da gehe auch du hin!“
Das Knäuel rollte durch den Wald, und er ging durch den Wald. Das Knäuel rollte über das Meer, und er überquerte das Meer. Da sah er am Meer eine Hütte. Er trat in die Hütte, und dort wohnte eine alte Frau. Diese Frau war seine Schwiegermutter. Sie erkannte ihn und sagte: „Man hört es und man sieht es, daß du mein Schwiegersohn bist.“ Sie begann ihn auszufragen. Da erzählte er ihr, was für eine Aufgabe der Gutsherr ihm gegeben hatte. Sie sagte: „Warte hier! Wenn mein Sohn kommt, wird er dir eine solche Geige bau-en.“
Sie nahm ihn mit, versteckte ihn in einer Kiste und bohrte ein kleines Loch in die Kiste, um Luft einzulassen. Am Abend kam ihr Sohn, die Sonne.
Da sagte die Alte zu ihm: „Mein Schwiegersohn war hier. Der Gutsherr hat ihm die Aufgabe gestellt, eine solche Geige zu bauen, bei deren Spiel die ganze Welt tanzen muß.“
„Gut“, sagte die Sonne, „wenn er meine Stelle als Sonne einnimmt, baue ich ihm die Geige.“
Die Frau öffnete die Kiste und ließ ihren Schwiegersohn heraus.
Am nächsten Tage blieb die Sonne zu Hause, und der Mann stand frühmorgens als Sonne auf. Da brachte ihm der heilige Georg das Frühstück. Der Mann packte ihn an den Haaren und begann ihn wegen des krätzekranken Pferdes zu schlagen. Dann brachte ihm der heilige Petrus das Mittagbrot, und der Mann schlug auch ihn. „Und du, mein Bester“, sagte er, „hast meinen Weizen vom Hagel zerschlagen und vom Wind verwehen lassen.“
Zu Mittag kam er an ein goldenes Bett. Er ruhte sich aus. Als er sich ausgeruht hatte, zertrümmerte er das Bett.
Am Abend kam er in die Hütte zurück. Die Sonne hatte die Geige bereits fertig. „Bleib noch einen Tag bei uns!“ sagte die Sonne.
Er blieb, und die Sonne ging am nächsten Morgen fort. Der heilige Georg brachte das Frühstück und stellte es ungefähr zwei Gonjen von ihr entfernt hin. Da fragte die Sonne: „Warum bringst du es nicht zu mir?“
„He“, sagte er, „damit du mich wieder schlägst!“
Die Sonne wunderte sich und fragte ihn aus: Georg erzählte, daß er tags zuvor geschlagen worden war. Dann brachte der heilige Petrus das Mittagbrot und stellte es auch zwei Gonjen von der Sonne entfernt auf. Sie fragte auch ihn, und Petrus erzählte, daß er tags zuvor geschlagen worden war. Zu Mittag wollte sich die Sonne ausruhen, da war das Bett fort.
Am Abend kam die Sonne nach Hause und fragte den Schwager: „Warum hast du den heiligen Georg geschlagen?“
„Wie sollte ich ihn nicht schlagen? Ich habe ein ganzes Jahr für ein krätzekrankes Pferd gedient, und er hat es den Wölfen gegeben. Wenn dir das passiert wäre, hättest du ihn auch geschlagen.“
„Das stimmt“, sagte die Sonne. „Aber warum hast du den heiligen Petrus geschlagen?“
„Ach“, sagte er, „wie sollte ich ihn nicht schlagen? Ich habe für einen Streifen Weizenfeld gedient, und er hat den Weizen vom Hagel zerschlagen und vom Wind verwehen lassen. Wärest du an meiner Stelle, hättest du ihn auch geschlagen.
„Das stimmt“, sagte die Sonne, „aber warum hast du das Bett zerstört?“
„Hast du den Tag vergessen“, sagte der Schwager, „an dem ich hungrig war und jenen Mann traf, der Heu auf den Schober warf und noch nicht viel geschafft hatte, als die Sonne unterging. Ich bat ihn damals, mir zu essen zu geben, und der Mann sagte: ‚Hilf mir, das Heu hinaufzuwerfen, dann gebe ich dir zu essen!’ Wir hatten noch nicht alles Heu hinaufgeworfen, da gingst du unter. Deshalb gab mir der Mann nichts zu essen, sondern schlug mich. Da wurde ich wütend auf die Sonne, weil sie zu früh untergegangen war. Daher habe ich auch das Bett zerstört.“
Da sagte die Sonne: „Das hätte ich auch getan.“
Nachdem der Schwager der Sonne übernachtet hatte, machte er sich wieder auf den Weg. Die Schwiegermutter steckte ihm ein Zauberkraut ins Ohr.
Er kam nach Hause zurück und ging zum Gutsherrn. Sowie die Geige erklang, versammelten sich alle Tiere und Ungeheuer und tanzten. Der Gutsherr erschrak und bat aufzuhören. Da hörte er auf zu spielen, und alles ging wieder an seinen Platz.
Da beriet der Gutsherr mit dem Onkel, und sie sagten: „Wenn du das kannst, dann kannst du auch in kochendem Wasser baden.“
Sie machten einen Kessel mit Wasser heiß, der Mann sprang hinein und kam noch hübscher heraus.
Der Gutsherr und der Onkel sprangen auch hinein und wurden gekocht.
Der Mann aber lebte weiter.

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