Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Sie lebten in Eintracht und liebten sich das ganze Leben lang. Zusammen schafften und ar-beiteten sie, und zusammen ruhten sie sich aus. Sie waren glücklich. Nur in einem hatte Gott ihnen keine Freude gegeben: Sie hatten ein ganzes Menschenalter hindurch zusammengelebt und keine Kinder gehabt. Wer sollte ihnen nun im Al-ter das Wasser reichen? Oft sprach die Alte davon und trocknete sich dabei die Tränen an der Schürze ab. „Weine nicht, Frau“, tröstete sie dann ihr Mann, „nur Gott kann helfen. Er ist gütig, vielleicht erfreut er uns noch im Alter.“ Die Alte hörte auf zu weinen und lachte leise. Manchmal glänz-ten ihre Augen vor Freude, und ihr ganzes Gesicht zog sich in Falten wie ein Gitter. Ihr wißt ja, ein Mensch verliert niemals die Hoffnung auf das Glück, denn ohne Glück kann man auf der Welt nicht leben. Oft baten die jungen Leute die alte Frau, bei ihren Kindern zu bleiben. Aber die Alte sträubte sich immer dagegen, denn sie fürchtete natürlich, daß man sie Großmütterchen nennen und auslachen würde, wenn sie selbst einmal ein Kind hätte.
Einmal war ihr Mann in der Scheune, und die Alte machte sich am Ofen zu schaffen und buk Pfannkuchen. Da sprang ein Feuerball durch das Fenster und hüpfte in der Hütte umher. Die Frau erschrak und wußte nicht, was sie tun sollte. Der Feuerball hüpfte und hüpfte und hüpfte der Alten in den Schoß. Sie hielt sich am Waschfaß fest, und kaum war sie wieder zur Besinnung gekom-men, da fühlte sie, daß etwas in sie hineingekro-chen war und in ihrem Schoß rumorte. Sie fühlte sich so wohl, daß sie sich niedersetzte. Da über-kam sie Schwäche, sie schleppte sich zur Pritsche und legte sich hin. Sie lag eine Weile dort; dann kam sie wieder zu sich und wunderte sich über das, was geschahen war.
Der Alten verlangte nach Quellwasser, Heringen und Essig. Sie jagte den Alten los, alles das her-beizuholen. Als die Alte den jungen Leuten davon erzählte, sagten diese, daß sie wohl ein Kind bekäme. Die jungen Frauen lachten über die Alte, jedoch diese glaubte es immer noch nicht. Aber bald begann ihr Bauch rund zu werden. Da glaubte auch die Alte, daß sie schwanger war, und freute sich, daß sie noch ein Kind bekommen würde.
Sie gebar einen sehr hübschen Jungen und konnte sich nicht genug darüber wundern. Wenn man ihn aufhob, um ihn zu warten, sah man, daß er drei Teufelsrippen hatte.
Da wunderten sich die Frauen und sagten, daß er sicher ein Recke werden würde.
Der Knabe wuchs und sammelte Kraft. Und bald war er so stark, daß ihn kein Mann mehr besiegen konnte. Der Recke wuchs, wurde noch stärker und machte sich schließlich auf den Weg in die weite Welt. Wie ihn auch die beiden Alten baten, sie doch im Alter nicht zu verlassen, es half nichts.
„Was soll ich hier mit euch sitzen und Hühner jagen? Ich gehe, Feinde zu suchen, und komme entweder selbst um oder töte die Feinde.“
Da war nichts zu machen. Der Alte und die Alte brachten ihren Sohn auf den großen Weg und führten ihn unter Geheul aus dem Dorfe. Dort verabschiedeten sie sich und kehrten auf den Hof zurück, denn weiter konnten sie nicht gehen. Sie waren doch schon sehr alt.
Da ging der Recke – so nannten sie ihn alle – in den dunklen Wald und pfiff so laut, daß die Blätter von den Bäumen fielen.
Da erschraken die Vögel und versteckten sich in den Zweigen oder im Gestrüpp. Die wilden Tiere erschraken auch und versteckten sich, wo sie nur konnten.
In dem Walde lebten sieben Brüder, sieben Räuber, und niemand wagte es, durch diesen Wald zu gehen oder zu fahren. Sie lebten dort und fürchteten niemanden. Die Räuber hörten das Pfeifen und gingen dem Recken entgegen. Der war zu einer Lichtung gekommen, hatte dort ein Feuer angemacht und saß nun daran und briet sich Speck an einem kleinen Spieß. Da umringten ihn plötzlich die Räuber.
„Wer seid ihr und was wollt ihr?“ fragte der Recke.
„Wer bist du, daß du es gewagt hast, in unseren Wald zu kommen?“ fragte der Räuberhaupt-mann.
„Wer ich bin, wirst du erfahren, wenn wir beide unsere Kräfte messen, aber der Wald gehört nicht euch, sondern Gott. Gott hat ihn allen Menschen zur Nutzung gegeben.“
„Das ist unser Wald. Das ist unser Reich. Wir sind seit langen Zeiten die Besitzer hier.“
„Ihr seid Räuber. Ihr habt diesen Wald durch Raub an euch gebracht. Ich aber bin gekommen, um euch Gottes Werk abzunehmen und es allen Menschen zu geben.“
„Ha, wie stark du bist! Laß uns zuerst kämpfen. Wir wollen sehen, wer von uns stärker ist.“
„Nun, dann los!“
Da nahm der älteste Räuber eine eiserne Keule von zehn Pud Gewicht und stellte sich vor dem Recken auf. Der Recke schaute sich um, und da sah er in der Nähe eine Eiche stehen, so groß, daß sie drei Mann kaum umfassen konnten. Der Recke ergriff diese Eiche und riß sie mit der Wurzel her-aus.
Als die Brüder das sahen, flehten sie ihn an, daß er sie nicht umbringen sollte. „Sei unser Hauptmann, dann werden wir die ganze Welt er-obern!“
„Nein“, sagte der Recke, „ich bin nicht gekommen, um die Welt zu beherrschen, sondern um die Welt von den Herren zu befreien, denn jeder Mensch ist sein eigener Herr. Wer Herr über ande-re Menschen sein will, der ist mein Feind.“
Da baten die sieben Brüder, die sieben Räuber, den Recken, sie als seine Gefährten anzunehmen.
„Gut!“ sagte der Recke.
Und so zogen sie gemeinsam weiter. Sie gingen von einem Dorf zum anderen, und überall sagte der Recke, daß kein Mensch über den anderen herrschen sollte und daß Gott alles allen Menschen gegeben hat. Er sagte immer: „Iß dein Brot, gib auch den anderen Menschen davon, lebe zufrieden und nutze niemanden aus! Denn wer gern beißt, den beißen auch die anderen.“ So lehrte der Recke die Menschen, in Eintracht und Liebe zu leben. Dann würde ihnen kein Leid geschehen, sagte er, denn eine in Eintracht lebende Gemeinde ist wie ein großer Mensch, ein großer Recke, ist stärker als alle Recken.
Dieses Wort ging durch die ganze Welt. Da er-schraken die Herren und beschlossen, den Recken zu fangen. Lange suchten sie ihn und konnten ihn nicht finden. Da wollten die sieben Brüder, die sieben Räuber, selbst Herren sein. So verschwo-ren sie sich und verrieten den Recken. Die Guts-herren freuen sich darüber, nannten die Räuber ihre Brüder, nahmen den Hut vor ihnen ab und gaben ihnen Geld, viel Geld und allerlei Sachen. Die Räuber versuchten, die Menschen zu überre-den, den aufsässigen Recken zu verraten. Die ei-nen überredeten sie, die anderen versetzten sie in Furcht, und die dritten machten sie betrunken. Es gibt bekanntlich immer viele dumme Menschen, die bereit sind, ihren Kopf in die Schlinge zu stek-ken. Sie sagten den Gutsherren, wo sich der Rekke aufhielt.
Da holten die Gutsherren Soldaten zusammen und fielen über den Recken her. Ihr kennt ja die Soldaten: Wenn man es ihnen befiehlt, bringen sie selbst den eigenen Vater um. Der Recke wußte jedoch noch nichts und hatte sich schlafen gelegt. Da fielen die Soldaten über ihn her, banden ihn mit Stricken und führten ihn zu den Gutsherren. Viele Menschen waren zusammengekommen. Der Recke tat ihnen leid, aber was half es? Sie konn-ten diesen guten Menschen nicht befreien. Die Soldaten führten den Recken in den Hof, und die Menschen liefen hinterher. Die Männer hielten die Köpfe gesenkt und schwiegen, die alten Frauen weinten und beteten. „Warum verläßt du uns? Wer wird uns dann noch ein gutes Wort sagen?“ Inzwischen hatten sich so viele Gutsherren ver-sammelt, daß man auf ihren Köpfen wie auf ei-nem Weg hätte entlangspazieren können. Sie heulten wie die Wölfe am Kadaver, weil sie den Recken gefangen hatten, lachten, unterhielten sich, rieben sich die Hände und überlegten, zu welcher Strafe sie ihn verurteilen sollten. „Zieht ihm die Haut lebendig vom Leibe!“ sagte der eine; der zweite: „Schlagt ihm Nägel in den Körper!“; der dritte: „Hängt ihn an der Zunge auf, damit die ganze Welt erfährt, daß ein Bauer kein Herr sein kann!“; und der vierte sagte: „Schneidet ihm die Zunge heraus und schlagt ihm die Beine ab, damit er nicht mehr durch die Welt ziehen und die Leute beschwatzen kann!“
Während sie so schrien und eine Strafe überlegten, streckte sich der Recke, zerriß die Stricke und sagte zu den Menschen:
„Brüder, wenn der Teufel die Gutsherren holt’,
dann hätte die Welt fortan keine Not;
doch wären die armen Bauern nicht,
gäb’s nichts zu trinken und kein Brot.
Wollen wir ohne Elend leben,
müssen sich alle wie ein Mann erheben.
Ihr dürft nicht gegeneinander geh’n,
müßt einig den Feinden widersteh’n!“
So sprach der Recke und verschwand. Nur ein Feuerball rollte von dieser Stelle aus über die Erde. Die Gutsherren und die Soldaten erschraken, standen da und zitterten. Sie kamen zu sich und sahen ängstlich um sich wie Wölfe in der Grube. Der Recke aber geht noch heute durch die Welt und lehrt die Menschen:
„Nur dumme Bauern zanken sich
und kriechen vor den Herr’n.
Nur dumme Bauern schweigen stets,
drum liegt ihr Glück so fern.
Doch sicher kommt die Zeit herbei,
dann werden alle Menschen frei.
Keiner schafft für sich allein,
und jeder wird ein Herrscher sein.“
Der Recke
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