Der Recke ohne Beine

In irgendeinem Zarenreiche, in irgendeinem Staate lebte einmal ein Schmied mit seiner Frau. Die Frau des Schmieds gebar einen hübschen Jungen, der aber keine Beine hatte. Der Junge wuchs nicht zur Freude, sondern zum Leidwesen seiner Eltern auf. Man weiß ja, welche Freude ein Krüppel den Eltern von Geburt an bereitet. Er wuchs auf wie ein Findelkind. Die Frau des Schmieds legte sich auf den Ofen und lief aufs Feld oder in den Garten; der Junge aber wälzte sich an der Erde, lutschte die Kartoffelschalen aus oder kaute gedämpfte Kartoffeln. Einmal warf ihn die Frau des Schmieds auf den Hof, da hätten ihn bald die Schweine aufgefressen. Der Frau des Schmieds tat es nicht leid um ihr Kind, denn – so sagte sie sich – was hat man schon für einen Nutzen von ihm? Er war ein Krüppel und half nicht, sondern war nur eine Last. Wenn ihn Gott doch von dieser Welt hinwegnehmen wollte!
Der Junge aber wuchs und wurde immer dicker. Er war schon ein ganz ungeschlachter Junge geworden, aber er konnte nicht laufen, sondern nur kriechen. Wie sie ihn auch fütterten, Nutzen hat-ten sie keinen von ihm. Die Mutter begann ihn noch mehr zu verfluchen und machte Gott Vorwürfe, weil er ihr keinen Sohn zur Freude, wie den anderen Menschen, sondern nur zu ihrem Leidwesen gegeben habe. Der Schmied mußte die dummen Flüche seines Weibes immerzu hören, aber er konnte nichts dagegen machen. Ihm tat der Junge leid. Aber die Alte gab ihm keine Ruhe, und schließlich hielt er es nicht mehr aus, schirrte die Stute an, setzte den Sohn auf den Wagen und fuhr mit ihm in den Wald. Er fuhr weit vom Dorfe fort und wollte dort den Sohn seinem Schicksal überlassen. Plötzlich sah er eine kleine Hütte im Walde.
Er kletterte hinein, aber es war niemand dort. Er schaute hierhin und dorthin, in der Hütte gab es alles, aber ihr Besitzer war nicht zu finden. Da trug er den Sohn in die Hütte und ließ ihn dort. Er setzte sich wieder auf den Wagen und trieb die Stute an. Er fuhr immer schneller dahin und schaute sich dauernd um, ob ihm niemand folge.
So saß der Junge nun allein in der Hütte und schaute sich an, was es dort zu sehen gab. Da kam auf einmal so ein altes Männlein und bat um etwas zu trinken.
„Ich würde dir gern etwas zu trinken geben“, sagte der Junge, „aber ich kann nicht gehen.“
„Das macht nichts“, sagte das alte Männlein, „schöpfe nur und versuche selbst einmal, ob das Wasser gut ist.“
Der Junge wollte schon lange trinken. Er trank zuerst einen Schluck und dann fast einen vollen Krug aus. Als er getrunken hatte, fühlte er sogleich eine solche Kraft in sich, daß es ihm schien, als könnte er die ganze Erde umdrehen, wenn er sich nur mit den Beinen etwas stützen könnte. Das alte Männlein trank auch und sagte: „Trink noch mehr, denn du brauchst viel Kraft!“
Dann verschwand es, als wäre es nie dagewesen. Der Junge wunderte sich und dachte, er hätte alles nur geträumt, aber da sah er, daß er ge-sunde Füße hatte. Er konnte gehen und fühlte den Boden nicht mehr unter sich. Er trank nochmals von dem Wasser und glaubte, daß er nicht sei-nesgleichen auf der Welt finden würde. Er wollte noch mehr Wasser eingießen, aber wie er den Krug anfaßte, da bog dieser sich um, und das Wasser floß heraus. Er griff einen Eimer und wollte zur Quelle laufen. Er suchte und suchte, aber er fand keine; es war, als wären sie alle in der Erde versickert. Er kehrte zur Hütte zurück, aber auch dort war kein Wasser mehr. Er lief dahin und dorthin und verirrte sich im Gestrüpp, so daß er nicht mehr wußte, wohin er gehen sollte. So stand er ein Weilchen und ging dann geradeaus los.
Er ging und sah plötzlich eine dicke Fichte oder Eiche vor sich, die so dick war wie ein Ofen. Er packte den Baum mit einer Hand, und der knickte um wie ein Strohhalm.
Er ging weiter und drehte gewaltige Bäume um; es sah aus, als wäre der Wirbelwind über sie da-hingefegt. Er knickte den ganzen Wald um, um sich ein Zeichen zu machen und um nicht ein zweites Mal dorthin zu kommen. Lange ging er so, bis er auf einen Weg hinaustrat. Dort am Wege lagen ganz große Steine wie Mauern. Er begann diese Steine wie Kartoffeln auf den Weg zu rollen.
Da kamen elf Recken angeritten. Sie kamen heran und hielten an, denn sie konnten nicht weiterrei-ten, weil die Steine dort lagen.
„Sei gegrüßt, Bursche!“ sagten die Recken, „was machst du da?“
„Ich spiele ein bißchen“, sagte der Junge.
Da stiegen die Recken von den Pferden und wollten den Weg frei machen. Sie griffen nach ei-nem Stein, konnten ihn aber nicht von der Stelle bewegen. Da trat der Junge heran und stieß die Steine in den Graben.
„Komm mit uns!“ sagten die Recken.
„Wie kann ich denn mitkommen, wenn ich kein Pferd habe?“ antwortete der Junge.
„Wähl dir ein Pferd von den unsrigen aus!“
Da wollte sich der Junge ein Pferd auswählen, aber sowie er ihm nur die Hand auf den Rücken legte, knickten dem Pferd die Vorderbeine ein. So probierte er alle Pferde, konnte aber kein geeignetes finden. Er zog dann mit den Recken, sie rit-ten auf den Pferden, und er ging zu Fuß. Da sah er einen Mann am Wege pflügen. Seine Stute war mager und klein, aber muskulös. Der Junge legte die Hand auf den Rücken des Pferdes, aber es rührte sich nicht. Da begann er um diese Stute zu handeln, aber der Bauer wollte sie um keinen Preis abgeben.
„Was soll ich mit so vielem Geld?“ sagte er, „vielleicht bringt mich dann noch jemand um? Aber wie soll ich in der Wirtschaft ohne Pferd aus-kommen? Ohne Pferd ist der Mensch kein Mensch.“
„Tausch deine Stute gegen ein anderes Pferd ein“, sagten die Recken, „such dir eins aus, nimm, welches du willst!“
„Wer tauscht, dem sitzt das Kummet locker“, sagte der Bauer.
Mit Gewalt brachten die Recken den Bauern dazu, die Stute für ein Paar der besten Pferde einzutauschen. Der „Recke ohne Beine“ setzte sich auf die Stute, und sie ritten weiter. Da kamen sie zu dem Dorf, wo der Vater des Jungen wohnte, und sie ließen dort in der Schmiede ihre Pferde be-schlagen.
Der Schmied erkannte seinen Sohn nicht, so hatte er sich verändert, und er beschlug auch dessen Stute. Da bat ihn sein Sohn, eine Keule für ihn zu schmieden. Der Schmied nahm alles Eisen zusammen und schmiedete eine solche Keule, daß drei Mann Mühe hatten, sie umzudrehen. Der Sohn des Schmiedes nahm die Keule, drehte sie mit einer Hand um, und als er sie in die Höhe warf, wußte man nicht, wo sie geblieben war. Die Recken standen da und wunderten sich. Aber nach kurzer Zeit hörte man es donnern, und die Keule kam heruntergeflogen. Der Sohn des Schmiedes hielt das Knie darunter. Die Keule schlug gegen das Knie und verbog sich etwas. Da gab der Schmied noch ein Pud Eisen dazu und schmiedete eine noch größere Keule. Sein Sohn dankte ihm, nahm diese Keule und ritt mit den Recken in die Welt.
Sie kamen zu einem Zaren und traten in seinen Dienst. Nach einiger Zeit erschien dort ein sehr großer Drache und begann Menschen zu verschleppen. Er verschleppte sehr viele Menschen und fraß sie auf. Schließlich wollte er Zarenfleisch fressen, ergriff die Zarentochter und schloß sie in seiner Höhle ein. Aber er fraß sie nicht gleich, sondern hob sie sich zum Nachtisch auf.
Der Zar ließ im ganzen Zarenreich bekanntma-chen, daß er demjenigen, der sie aus der Gewalt des Drachen befreit und den Drachen tötet, das halbe Zarenreich und seine Tochter zur Frau geben wolle. Viele starke Recken rissen sich darum, mit dem Drachen zu kämpfen. Aber alle ließen ihre Knochen dort. Schließlich wurden auch die Rek-ken geholt, die mit dem Sohn des Schmiedes gekommen waren.
„Komm mit uns“, sagten sie zu ihm, „du bist noch jung, und es wird Zeit, daß du auch Ruhm erwirbst. Komm, wir lehren dich kämpfen!“
Der Sohn des Schmiedes war einverstanden, und sie ritten gemeinsam los. Sie ritten und ka-men zu einer Kreuzung. Dort stand ein Schild, darauf war etwas geschrieben. Einer von ihnen konnte lesen. Er las vor, daß der, der nach rechts reitet, Ruhm erwerben würde, wer nach links rei-tet, reich werden sollte, und wer geradeaus weiterreitet, auf den Tod treffen würde. Da überleg-ten die Recken, wohin sie reiten wollten. Sie wählten alle den Weg nach rechts und ritten los, um den Ruhm zu suchen. Nur der Sohn des Schmiedes sagte, daß man dem Tode doch nicht entgehen könne und er geradeaus reiten wolle.
Wie ihm die Recken auch abrieten, er blieb hartnäckig und ritt so als einziger geradeaus weiter.
Als er ein Stück geritten war, stieß er auf dieselbe Hütte, in die ihn sein Vater gebracht hatte, als er noch ohne Beine war. Er band die Stute an und kletterte in die Hütte. In der Ecke, am Ofen, sah er eine sehr alte Frau sitzen.
„Sei gegrüßt, Großmütterchen!“
„Dank dir, Bursche. Wohin führt dich Gott?“ fragte sie.
„Ich reite geradeaus, Großmütterchen.“
„Reite nicht weiter, Kindchen, denn sonst wirst du umkommen! Dort wird dich der Drache auf-fressen.“
„Doch, Großmütterchen, ich reite weiter, und wenn ich auch umkommen sollte!“
„Du tust mir leid, Kindchen. Du warst in meiner Hütte, und da ist mir jetzt, als seist du mein En-kelkind. Hör mich also an. Was du auch immer auf dem Wege treffen solltest, töte es nicht, denn es wird dir in der Not dienen.“
Der Junge dankte dem Mütterchen und ritt weiter.
Er war gerade von der Hütte fortgeritten, als ein Hase hervorsprang. Schon wollte er die Keule nach ihm schleudern, da sagte der Hase: „Töte mich nicht, ich will dir auch helfen, wenn du in Not bist.“
Er ritt weiter, und der Hase lief ihm nach. Da kam ein Wolf hervorgesprungen. Der Recke griff zur Keule. Aber der Wolf sagte: „Töte mich nicht, du wirst mich, wenn du in Not bist, noch brau-chen.“
Er steckte die Keule wieder ein und ritt weiter. Der Wolf lief hinter ihm her.
Da kam er zu einem steilen Berg. Er konnte nicht weiterreiten, stieg von der Stute, ließ sie in das Feld laufen und wollte einen Weg suchen.
Inzwischen kroch der Drache aus seiner Höhle, um zu fressen, und kam gerade dorthin, wo die Stute war. Als der Wolf sah, daß der Drache die Stute fressen wollte, kam er und erschreckte sie so, daß sie aus Leibeskräften davonrannte und dem Drachen so entkam. Der Drache fraß und kehrte in seine Höhle zurück. Da kam der Hase zu dem Burschen gelaufen und zeigte ihm die Fels-spalte, in der der Drache die Zarentochter ver-steckt hielt. Der Bursche klopfte mit der Keule an die Felswand, und da erschien die Zarentochter auch schon und sagte: „Lauf fort, sonst wird dich der Drache fressen!“ Da holte der Bursche zum Schlag aus, und als er mit der Keule gegen die Wand donnerte, zerbrach sie.
Die Zarentochter fiel ihm um den Hals und bat ihn, sie zu Vater und Mutter zu bringen.
Inzwischen hatte der Drache den Kopf in den Spalt gesteckt und wollte den Burschen fressen. Da griff der Bursche zur Keule, und als er sie auf den Kopf des Drachen hatte niederdonnern las-sen, lief diesem das Gehirn aus. Er schnitt dem Drachen die Zunge ab und steckte sie in die Ta-sche. Unterdessen hatte der Drache den zweiten Kopf hereingesteckt. Der Bursche zerschmetterte auch den und schnitt die Zunge ab. Auf diese Weise zerschlug er dem Drachen alle zwölf Köpfe.
Die Zarentochter war froh, daß ein solcher Rek-ke gekommen war und den bösen Drachen umge-bracht hatte. Der Bursche gefiel ihr, und sie ver-sprach, ihn zu heiraten, wenn er sie zu Vater und Mutter bringen würde. Und um zu zeigen, daß sie es ehrlich meinte, zerriß sie ein Tuch und gab dem Burschen eine Hälfte davon. Der Bursche steckte das Tuch in die Tasche und legte sich schlafen, denn er war durch den Kampf mit dem Drachen sehr müde geworden.
Der Bursche schlief seinen Reckenschlaf und fühlte nicht, daß eine Gefahr nahte. Inzwischen waren nämlich auch die anderen Recken dorthin gekommen, hatten die Zarentochter gesehen und sie gefragt, wie alles war. Sie erzählte alles, wie es war, und sagte, daß sie den Burschen heiraten wolle. Da wurden die Recken auf den Burschen neidisch, ritten zu ihm und töteten ihn im Schlafe. Dann fingen sie an sich zu streiten, wer die Zarentochter bekommen sollte. Lange zankten sie sich, und schließlich schlugen sie sich so lange, bis einer den anderen erschlagen hatte. Es blieb nur einer von ihnen am Leben, der Größte und Geschickteste.
Der zwang die Zarentochter, ihrem Vater und ihrer Mutter zu sagen, daß er den Drachen getötet und sie aus der Gefangenschaft befreit habe. Da konnte sie nichts machen, sie mußte einwilligen, denn ihr geliebter Bursche war ja nicht mehr am Leben. Da setzte der Recke die Zarentochter auf sein Pferd und brachte sie zum Zaren.
Inzwischen lief der Hase zur Quelle, holte in einem Kännchen Lebenswasser und spritzte es dem Burschen in die Augen. Da wurde dieser wieder lebendig und wachte auf. Er sah, daß die Zaren-tochter nicht mehr da war, erriet, daß hier eine böse Sache geschehen war und begann vor Ärger fast zu weinen. Er wollte schnell zum Zaren laufen und ihm die Wahrheit erzählen, aber natürlich, er konnte zu Fuß nicht so schnell fort. Unterdessen war der Wolf durch den Wald gelaufen und hatte die Stute gefunden. Er schreckte sie auf und sprang zurück. Der Bursche setzte sich auf die Stute und ritt zum Zaren. Als er dorthin kam, wurde schon alles zur Hochzeit vorbereitet. Er ging zu dem Zaren und erzählte ihm die ganze Wahrheit.
Der Zar glaubte ihm nicht und fragte die Tochter. Aber diese sagte nur das, was ihr der Recke zu sagen befohlen hatte.
Da befahl der Zar, den Burschen wegen Verleumdung zu erhängen. Und erst jetzt fragten sie ihn, wer er sei.“
„Ich bin der ‚Recke ohne Beine’“ antwortete er, „aber mehr sage ich euch nicht.“
Da führten sie diesen „Recken ohne Beine“ zum Galgen. Die Zarentochter ging im Garten spazie-ren. Der Bursche sah den Hasen am Zaun sitzen, zog das Tuch aus der Tasche und warf es dem Hasen hin. Der Hase ergriff das Tuch und lief zur Zarentochter. Die sah es und erstarrte fast.
„Was ist dir?“ fragte der Zar.
Da warf sie sich ihrem Vater zu Füßen, erzählte die ganze Wahrheit und bat ihn, den Burschen nicht aufhängen zu lassen, da er sie vom Drachen befreit habe. Da befahl der Zar, den Burschen nicht aufzuhängen, sondern in den Palast zu brin-gen. Als er mit seiner Tasche kam und dort stand, fragte ihn der Zar, wie denn nun alles gewesen sei. Er erzählte alles, wie es gewesen war. Aber der andere Recke sagte, daß das nicht stimme. Da zog der „Recke ohne Beine“ die Drachenzungen aus der Tasche und fragte: „Und was ist das?“ Da wurde der andere Recke ganz verwirrt, und die Zarentochter zeigte dem Vater beide Hälften des Tuches. Da glaubten es alle.
Der unehrliche Recke wurde gehängt, und der „Recke ohne Beine“ heiratete die Zarentochter und wurde Herrscher des halben Zarenreiches. Sie feierten eine fröhliche Hochzeit. Ich war auch dort und habe Met getrunken. Der ist mir den Bart heruntergelaufen, aber nicht in den Mund hinein.

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