Der Geldbeutel des Kranichs

Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hatten weder Kinder noch Verwandte, sondern lebten zu zweit in ihrer Hütte. Sie waren sehr arm und ungefähr achtzig Jahre alt, aber vielleicht auch noch älter. Kurzum, sie hatten ein langes Leben hinter sich. Da geschah es, daß sie nichts mehr zu essen im Hause hatten. Sie lebten nur noch von etwas Zwieback, den der Alte erbet-telte. So warteten sie auf den schönen Frühling. Die Alte setzte ihrem Mann zu und sagte: „Alter, die anderen Leute säen alle, du solltest auch etwas säen, irgendwo müssen wir noch einen Gar-netz1 Hirse haben. Dann können wir zahnlosen Alten auf unsere alten Tage wenigstens noch etwas warme, weiche Grütze oder Graupensuppe essen, dieser Zwieback ist mir nämlich schon sehr zuwider!“
Der Alte gehorchte seiner Frau und säte im schönen Frühling Hirse. Er rodete sich in einem Gehölz ein Stück Feld und säte Hirse zwischen die Baumstümpfe.
Nachdem der Alte die Hirse ausgesät hatte, wartete er eine Woche lang, dann sah er nach, ob sie aufgegangen war oder nicht. Als er in der Woche darauf hinging, war die Hirse ihm schon bis zum Gürtel gewachsen. Gott hatte sie so schnell wachsen lassen, damit die armen Alten etwas zu essen hatten. Als er eines Tages zu seiner Hirse kam, sah er einen Kranich darin stehen, einen riesengroßen Kranich. Er warf einen Stock nach ihm, und der Kranich erhob sich in die Lüfte und flog davon. Als sich der Alte seine Hirse genauer an-sah, war sie ganz zertreten, zerstampft und zertrampelt. Da ging er nach Hause und sagte zu seiner Frau: „Ach, sieh nur, Alte, Gott hat unsere schöne Hirse wachsen lassen, aber er läßt sie uns nicht ernten. Er will uns wohl nicht länger leben lassen, denn ein Kranich hat die Hirse abgefressen und alles zertreten und zertrampelt.“
„Ach, mein Alterchen, du warst doch früher Jäger. Nimm ein Gewehr, reinige es, schleiche dich heran und töte den Kranich! Dann haben wir sogar noch Fleisch.“
Der Alte gehorchte ihr, nahm das Gewehr, rei-nigte es und ging am Morgen in die Hirse. Der Kranich kam am Vormittag herbeigeflogen. Der Alte kroch heran und zielte auf ihn. Aber der Kra-nich war ein Zauberer; kaum war der Alte herangekommen, da verwandelte er sich aus dem Vogel in einen Gutsherrn. Strahlend stand er da, hatte eine schöne Uniform an und sah sehr hübsch aus.
Der Gutsherr sagte zu dem Alten: „Halt, Alterchen, töte mich nicht!“
Und er fragte ihn: „Ist das deine Hirse, Alterchen?“
„Ja.“
„Was willst du für deine Hirse haben?“
Der Alte war ganz erschrocken, vor ihm stand ein so reicher Herr, und er war nur ein heruntergekommener Bettler in zerlumpter Kleidung und verräuchert wie eine Badestube. „Du willst wissen, was ich haben will? Nun, ich habe weder Kinder noch Verwandte, habe niemanden zu ernähren.“
„Nun, Alterchen, wenn du keine Angehörigen und niemanden zu versorgen hast, dann komme mir auf dem grünen Pfad durch das seidene Gras nach. Wenn du den grünen Pfad durch das seide-ne Gras gehst, kommst du auf eine Lichtung, und dort ist mein Hof. Gehe nicht von Westen an die Treppe heran, sondern von Süden. Dort ist eine andere Treppe. Steige sie hinauf in mein Haus. Dort wird ein Wachtposten stehen und dich fra-gen, wohin du willst. Du aber sage: ‚Zum Kra-nich’, dann wird er dich durchlassen. Ich werde dich hören oder vom Fenster aus sehen und dir selbst öffnen, um dich in mein Haus einzulassen.“
Nachdem er dies gesagt hatte, wurden seine Hände zu Flügeln, er erhob sich in die Lüfte und flog davon.
Der Alte aber ging den grünen Pfad durch das seidene Gras entlang. Er ging und ging und kam auf eine Lichtung, in deren Mitte ein Haus stand. Das war so schön, wie man es weder erdenken noch beschreiben kann, man kann es nur im Mär-chen erzählen. Wahrscheinlich gibt es so schöne Gebäude in unserem ganzen Zarenreich nicht. Das strahlte und glänzte! Der Alte ging an das Haus heran und kam zu der südlichen Treppe, an der der Posten stand. Das war der Posten, von dem der Kranich gesprochen hatte.
„Wohin willst du, du Lump? Wie kannst du es wagen, hier herumzulaufen?“
Das hörte der Kranich, öffnete schnell zwei Tü-ren und sagte: „Komm nur herein!“ Der Posten trat sofort beiseite.
Da ging der Alte durch ein Zimmer, durch das zweite und trat in das dritte. Der Kranich setzte ihn in einen Sessel, so ungefähr, wie ihr mich hier hingesetzt habt, und stellte ihm zu essen und zu trinken hin, Weine, Speisen und Obst. Er deckte ihm den Tisch, es gab alles außer Vogelmilch. Er bewirtete den Alten und fragte: „Was willst du für deine Hirse haben, Alterchen?“
„Ach, mein strahlender Herr, ich kann es Euch nicht sagen. Gebt, was Ihr wollt!“
Da ging der Herr in ein anderes Zimmer und brachte ihm einen Geldbeutel. Dann sagte er: „Wenn du unterwegs essen willst, Alterchen, dann sage nur: ‚Beutelchen, gib mir zu essen und zu trinken!’ Dann wird es sich öffnen, und ein Tisch, ein Stuhl, und alle die Speisen, die du bei mir gegessen hast, werden herauskommen. Und wenn du dich sattgegessen hast, dann sage: ‚Speisen und Getränke, geht zurück in das Beutelchen!’ Dann geht wieder alles zurück, du rollst das Beutelchen zusammen und gehst weiter nach Hause. Trink aber nicht zuviel, denn sonst wirst du betrunken, und man kann dir das Beutelchen stehlen!“
Auf dem Heimweg wollte der Alte das Beutelchen ausprobieren. Er wollte gern wissen, ob das stimmte, was der Kranich ihm gesagt hatte. Als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, setzte er sich nieder, nahm das Beutelchen, öffnete es und sagte: „Beutelchen, Beutelchen, gib mir zu essen und zu trinken!“ Sofort erschien ein glänzendes Zimmer, und darin standen Speisen und Geträn-ke. Der Alte probierte davon, nahm von jedem ein bißchen und sagte dann: „Speisen und Getränke, geht wieder zurück in den Beutel!“ Da ging alles wieder zurück. So kam er in sein Dorf, zu seiner Hütte. Er trat in seine Hütte ein und sagte: „Guten Tag! Lebst du noch, meine Alte?“
„Ja, ich lebe noch, Alterchen“, antwortete die Greisin. „Lebst du denn noch?“
„Ich lebe noch und bin gesund!“
„Ich habe schon gedacht, daß dich die Wölfe gefressen oder die Bären getötet, ins Moos gezo-gen, vergraben und mit einem Klotz bedeckt hätten.“
„Nein, Alte, die Wölfe haben mich nicht gefressen, und die Bären haben mich nicht getötet, sondern ich habe Brot und Salz mitgebracht. Jetzt können wir aber leben. Setz dich mit mir an den Tisch, Alte! Du hast vielleicht einen ganzen Monat lang nichts gegessen. Jetzt werden wir Speisen und Getränke haben.“
„Was redest du da, Alter? Woher sollen wir zu essen und zu trinken nehmen?“
„Setz dich nur, setz dich!“
Sie setzten sich an den Tisch, der Alte nahm den Beutel und legte ihn auf den Tisch. Der Tisch war braun, so wie sie in verräucherten Hütten sind. Er öffnete den Beutel und sagte: „Nun, Beu-telchen, mein Beutelchen, bringe mir zu essen und zu trinken!“ Sofort war alles da! Hatten sie vorher in einer verräucherten Hütte gesessen, so waren sie jetzt in einem Zimmer, das schöner war als dieses hier1, ja, was sage ich, vielleicht gibt es ein so schönes Zimmer im ganzen Zarenreich nicht. Und alle möglichen Speisen und Getränke standen da. Weine und Kuchen, alles war da. Wie wunderte sich da die Alte! „Ach mein Gott, mein Gott, woher ist das alles? Wo hast du das nur her?“
„Hör zu, Alte! Als du mich weggeschickt hast, den Kranich zu töten, und ich zur Hirse kam, war er dort. Ich wollte gerade zielen, um ihn zu töten, da verwandelte er sich in einen feinen Herrn, der nur so strahlte. ‚Was willst du für deine Hirse ha-ben?’ fragte er. Da sagte ich zu ihm: ‚Ich habe keine Angehörigen und habe niemanden zu ernäh-ren.’ Da sagte er: ‚Komm zu mir auf meinen Hof, gehe den grünen Pfad durch das seidene Gras, und ich werde dich belohnen!’ Ich kam auf seinen Hof, und er gab mir zu essen und zu trinken und dieses Beutelchen hier. Alles, was du hier siehst, kommt aus diesem Beutelchen.“
Da trank die Alte, umarmte ihren Mann und küßte ihn und sagte: „Nun hab Dank, Alterchen! Ich freue mich über dich. Es kommt mir vor, als wärest du aus der anderen Welt zurückgekommen. Weißt du was, mein Alterchen? Wir haben bisher ganz allein gelebt, sind nie zu anderen Leuten gegangen, und die Leute sind nicht zu uns gekommen. Wir wollen den Dorfältesten und den Dorfschulzen einladen! Wir haben einen so schön gedeckten Tisch und eine so prächtige Hütte!“
„Wie du willst, Alte. Du kannst sie einladen, sol-len sie zu uns kommen!“
Die Alte band ihr Tuch um, ging ins Dorf zu dem Dorfältesten und zu dem Dorfschulzen und sagte: „Kommt zu uns als Gäste, meine Kinderchen!“
„Wie kannst du uns einladen, alte Hexe? Lebst in einer alten Hütte, hast womöglich nichts zu es-sen und lädst andere zu Gast!“
„Nein, meine Kinder, ihr könnt erst schimpfen, wenn ihr bei uns gewesen seid und unser Tisch nicht gedeckt war. Vorher aber solltet ihr nicht schimpfen.“
Da dachten jene: Nun, mag es so sein, gehen wir hin zu ihr!
So gingen die beiden zu ihr zu Besuch. Sie hatten es sehr gern, wenn sie eingeladen wurden.
Sie kamen in die Hütte und sagten: „Guten Tag, Großvater!“
„Seid gegrüßt!“
„Was gibt’s Neues?“
„Setzt euch nur, setzt euch auf die Bank, wir wollen uns ein bißchen unterhalten!“
Die beiden setzten sich. Der eine hielt eine geflochtene Peitsche in der Hand und der andere ei-ne Riemenpeitsche. Denn bekanntlich waren die Dorfältesten und die Dorfschulzen ein Schrecken für die leibeigenen Bauern, gingen immer mit Peitschen durchs Dorf und jagten die Bauern aus den Hütten zur Fronarbeit. Da holte der Alte den Beutel heraus und sagte: „Beutelchen, Beutelchen, gib zu essen und zu trinken!“ Aus dem Beu-tel kamen allerlei Speisen und Getränke, wie viele es waren, weiß man nicht. Vielleicht fünf, vielleicht auch zehn. So wurden der Dorfälteste und der Dorfschulze bewirtet. Sie aßen und tranken und wunderten sich, woher das alles gekommen war, die Speisen, die Getränke und der Glanz in der Hütte. Sie fragten sich, ob vielleicht der liebe Gott das Paradies vom Himmel geschickt hätte. Denn noch nicht einmal der Gutsherr hatte so vie-le Speisen und Getränke, einen so reich gedeck-ten und geschmückten Tisch.
Sie aßen sich satt, tranken sich voll und gingen wieder von dannen.
Da sagte die Alte: „Weißt du was, Alterchen?“
„Was denn?“
„Wollen wir nicht den Gutsherrn zu Besuch einladen?“
„Was redest du da, du dumme Alte? Es stimmt wohl wirklich, wer auf Weiber hört, ist schlecht belehrt. Denkst du denn, daß der Gutsherr zu so alten und armen Leuten kommt? Geh mal hin, er wird dir eins mit der Peitsche überziehen!“
„Mag kommen was will, ich werde zu ihm gehen.“
„Nun, dann geh!“
Die Alte ging los, kam zu dem Gutsherrn in das Zimmer, und der Gutsherr fragte sie: „Was gibt es Neues, Alte?“
„Hör zu, lieber Gutsherr! Mein Mann und ich bitten Euch zu Gast zu uns!“
„Was sagst du da? Ach du Närrin! Du lädst mich zu dir ein? Ich soll zu einer so armen Frau ge-hen?“
„Lieber Herr, wenn Ihr mir nicht glaubt, dann fragt bei Euren Getreuen nach. Ihr habt doch einen Dorfältesten und einen Dorfschulzen. Fragt die, ob man zu uns kommen kann oder nicht!“
„Nun, es ist schon gut.“
Er rief sofort die Lakaien und die Kutscher und befahl, daß sie die Dorfältesten auf ein Stündchen zu ihm holen sollten. Da gingen die Diener zu den Dorfältesten und sagten ihnen, daß der Gutsherr sie zu sich bitte. Die Dorfältesten kamen zu dem Gutsherrn und fragten: „Warum habt Ihr uns ge-rufen?“
„Also hört zu: Da lädt mich doch diese Hexe ein. Kann man denn zu ihr gehen?“
„Oh ja, lieber Herr, das kann man. Wir haben bei Euch nie einen so reich gedeckten Tisch gesehen wie bei ihnen. Der Alte hat einen Beutel, aus dem er alles bekommt: goldenes Geschirr, verschiedene Schnäpse und Weine, einen reich ge-deckten Tisch. Da könnt Ihr schon hingehen.“
Der Gutsherr hörte auf die Dorfältesten und befahl seinem Kutscher, die Pferde anzuspannen. Der Gutsherr und seine Frau zogen sich an und fuhren los, nicht so sehr, um zu essen und zu trinken, als vielmehr, um die Wahrheit zu erfah-ren, um festzustellen, ob das wirklich stimmte oder nicht, was die Alte gesagt hatte. Sie fuhren los, kamen zu der Hütte und stiegen aus der Kutsche. Da trat der Alte heraus und sagte: „Zürnet nicht, lieber Gutsherr! Meine Hütte ist von außen nicht sauber. Aber drinnen werdet ihr Stühle, Blumen und einen schön gedeckten Tisch vorfinden. Meine Hochachtung!“
Der Gutsherr trat in die Hütte und blieb an der Schwelle stehen. Da nahm der Alte den Beutel und sagte: „Beutelchen, mein Beutelchen, gib zu essen und zu trinken und schmücke meine Hütte!“ Sofort erschien alles, Speisen und Getränke und allerlei Schmuck. Und es gab im ganzen Zarenreich keinen so reich gedeckten Tisch wie diesen. Der Gutsherr überlegte, ob er sich denn setzen sollte. „Kommt, kommt, lieber Gutsherr, wir bitten Euch, Brot und Salz zu nehmen, mit Gottes Se-gen!“ Der Gutsherr begann die Weine zu prüfen und merkte, daß es die teuersten waren. Sie begannen zu essen und zu trinken. Bekanntlich will ein Edelmann nicht so sehr essen, als vielmehr allerlei Ratschläge haben. Er ist kein Bauer, von dem man sagt, daß er sich vollfrißt wenn man ihn nur läßt.
Als sie so aßen und tranken, sagte der Guts-herr: „Höre Alter, für dich ist es doch unange-nehm, so einen Beutel zu haben. Du bist ein ein-facher Bauer, aber dein Tisch und dein Haus sind besser als meines. Das ist mir meinen Freunden gegenüber peinlich. Ich bitte dich in Ehren: Gib mir dieses Beutelchen. Ich gebe dir Mundvorrat, Graupen, Mehl und Gewürze. Alles was du brauchst, wirst du bekommen. Ich gebe dir auch eine Dienerin, eine Kuh, ein Schwein und Butter, alles was du willst. Wozu brauchst du schon die-ses Beutelchen? Ich werde dich beerdigen lassen, wenn du gestorben bist, werde eine Trauerfeier für dich veranstalten, werde dich trösten und werde dich durch die Klöster fahren.“
Da sprach der Alte mit seiner Frau. Er sagte: „Was sollen wir machen? Der Gutsherr will den Beutel haben, wollen wir ihn weggeben oder nicht?“
„Ja, Alter, wenn der Gutsherr etwas verlangt, müssen wir gehorchen. Wir bekommen doch alles, man wäscht uns die Kleidung und gibt sie uns sauber zurück.“
So bekam der Gutsherr den Beutel, und die beiden Alten blieben in ihrer Hütte, wo sie waren. Der Gutsherr nahm den Beutel und fuhr davon. Er gab ihnen Mundvorrat und eine Dienerin, ein Pud Mehl, ein Pud Erbsen, ein Pud Graupen, fünf Pfund Speck, drei Pfund Butter und zehn Pfund Salz, das war ihr Anteil. Sie verbrauchten alles in wenigen Tagen. Dann schickten sie ihre Dienerin zum Gutsherrn auf das Gut.
Der Gutsherr aber gab ihnen nichts mehr, er ließ die Dienerin nicht einmal hinein. „Ich habe euch genug gegeben! Es gibt viele, denen ich et-was geben muß. Ich muß die ernähren, die arbeiten. Die beiden Alten aber arbeiten nicht für mich. Sollen sie betteln gehen und das essen, was sie sich erbetteln. Ein erbettelter Faden ist wie ein Hemd für einen Nackten, und von einer erbettelten Krume können sich zwei ernähren.“
So betrog der Gutsherr sie und brach sein Wort.
Die Dienerin berichtete es dem Alten. Sie sagte: „Der Gutsherr hat gesagt, daß er vielen Leuten etwas geben müsse. Er müsse die ernähren, die arbeiten. Euch aber läßt er sagen, daß ihr betteln gehen sollt und daß ich zurück in den Hof kom-men soll.“ Dann ging sie davon. Da blieb der Alte mit seiner Alten zurück, so wie sie waren, schmutzig, zerlumpt und in großer Not.
Der Alte überlegte sehr, sehr lange, was er tun solle und woher er zu essen bekommen solle. Da kam er auf den Gedanken, zu dem Kranich zu ge-hen und sich bei ihm zu beschweren. Vielleicht wird er Erbarmen haben und ihm ein anderes Beutelchen geben. Er wollte sagen, daß die Alte den Beutel verloren habe. Es ist schon so, wer auf Weiber hört, ist schlecht belehrt. Wenn du mit ei-nem Weibe zusammenlebst, dann sag ihr nie die Wahrheit. Mit diesem Glauben machte er sich auf den Weg.
„Ich gehe zu dem Kranich. Vielleicht gibt er uns einen zweiten Beutel“, sagte er zu seiner Alten.
„Nun, dann geh, Alter, vielleicht gibt er dir einen, vielleicht auch nicht, aber geh!“
Er ging den grünen Pfad entlang, durch das seidene Gras. Er ging und ging und kam auf die Lichtung. Auf der Lichtung stand das Haus des Kranichs. Er ging zu dem Haus des Kranichs und trat an die Treppe. Da schrie ihn der Posten an: „Wo willst du hin, du Bettler, und was willst du?“ Das hörte der Kranich, er öffnete gleich die Tür und sagte: „Komm nur herein, komm herein!“ Der Posten aber trat augenblicklich beiseite. Sie gingen durch die beiden Zimmer und traten in das dritte. Dort fragte der Kranich: „Nun, was ist, mein liebes Alterchen? Hat dich jemand gekränkt?“
„Ja, lieber Herr, der Gutsbesitzer hat mich ge-kränkt. Meine Alte hat die Dorfältesten zu sich eingeladen, hat ihnen zu essen und zu trinken gegeben, und dann hat sie zu mir gesagt: ‚Laß uns auch den Gutsherrn einladen!’ Ich wollte ja erst nicht, aber der Satan holt ja selbst den Falken. Sie lud den Gutsherrn ein. Er kam mit seiner Frau zu uns und überredete mich, ihm den Beutel zu geben. Er versprach, uns immer genügend zu essen und zu trinken zu geben. Ich mußte mich mit meiner Alten beraten, und sie sagte: ‚Gib ihm den Beutel, Alter, wir müssen dem Gutsherrn gehor-chen, er will uns doch alles geben!’ Ich gab ihm den Beutel, und der Gutsherr schickte uns unse-ren Anteil. Als dieser Anteil zu Ende ging, betrog er uns und sagte: ‚Sollen sie betteln gehen und davon leben!’“
Der Kranich setzte sich an den Tisch, gab ihm zu essen und zu trinken. Aber der arme Bauer vergoß viele Tränen und konnte nichts essen. „Könnt Ihr mir nicht noch solch einen Beutel ge-ben?“ fragte er ihn.
„Gut, gut, ich gebe dir noch etwas. Sollen es alle wissen! Ich will dir aber keinen Beutel geben, sondern ein Fäßchen.“
Der Kranich ging in ein anderes Zimmer, brach-te ein kleines Fäßchen herbei und belehrte ihn: „Wenn du nach Haus kommst, dann sage zu dei-ner Frau: ‚Alte, steig vom Ofen! Ich habe keinen Beutel mitgebracht, sondern ein Fäßchen.’ Wenn die Alte vom Ofen gestiegen ist, dann sage: ‚Ihr zwölf Recken, steigt aus dem Fäßchen, gebt der Alten, was sie verdient hat, zieht ihr mit den Peit-schen ein paar über!’ Wenn sie es der Alten gege-ben haben, dann sage nur: ‚Ihr zwölf Recken, steigt wieder zurück in das Fäßchen!’ Dann befiehl der Alten, sie soll ihr Tuch umbinden und zu dem Gutsherrn gehen, ihm aber nicht sagen, daß du so ein Fäßchen gebracht hast, sondern, daß du noch ein Beutelchen gebracht hast, das noch schöner ist als das andere! Lade den Gutsherrn und die Gutsherrin ein und auch die Dorfältesten und alle Adligen. Wenn sie alle zusammengekommen sind, dann setze den Gutsherrn mit seiner Frau in die Ecke und schicke die anderen auf den Hof. Dann sage: ‚Ihr zwölf Recken, steigt aus dem Faß und gebt ihnen allen Saures!’ Wenn sie es ihnen gege-ben haben, dann sage: ‚Ihr zwölf Recken, stellt euch dort an der Schwelle auf!’ Und dann verlan-ge deinen Beutel zurück.“
Der Alte bedankte sich bei ihm und ging nach Hause. Dort ließ er erst einmal die Alte verdre-schen. Sie lief dann schnell zu dem Gutsherrn und lud ihn, seine Frau, die Dorfältesten und alle Adli-gen ein. Da gab man ihnen aber Saures, ihnen allen, den Adligen, den Dorfältesten, den Kut-schern, allen!
„Nun, ihr zwölf Recken, stellt euch dort an der Schwelle auf! Du aber, Gutsherr, leg den Beutel dorthin, sonst bekommst du eine Abreibung, wie weder du noch dein Vater oder deine Großväter oder deine Urgroßväter sie je erlebt haben!“
„Gib nur acht!“
Worauf sollte er schon achtgeben, die zwölf Recken auf der Schwelle mit ihren Peitschen wa-ren ja deutlich zu sehen. Als der Gutsherr erkann-te, daß es ihm schlecht gehen würde, dachte er daran, daß er vergessen hatte, den Beutel mitzu-nehmen. Er sagte zu dem Alten: „Ich gebe dir deinen nahrhaften Beutel zurück, Alterchen, laß mich nur lebend hier heraus! Wie lange ich auch noch lebe, ich will nur noch Gutes tun. Ruft mir meinen Diener!“ Sie riefen den Diener und ließen ihn zu dem Gutsherrn.
Der Gutsherr sagte zu ihm: „Fahr bitte schnell in den Gutshof, mein Lieber, dort im Schrank, vielleicht aber auch in der Kiste, liegt mein Beutelchen. Nimm es und bringe es so schnell wie möglich hierher, sonst wird es mir hier schlecht ergehen!“
„Warum?“
„Weil zwölf Teufel mit Peitschen hier stehen.“
Er gab ihm die Schlüssel, die er in der Tasche hatte. Der Diener fuhr, holte den Beutel und brachte ihn dem Gutsherrn.
Da sagte der Gutsherr: „Hier ist dein Beutelchen, Alter, jetzt laß mich aber frei!“
Der Alte nahm den Beutel und sagte: „Nun gebt es ihm! Er schlägt die Bauern auch, als ob es ihnen nicht weh täte. Soll er auch einmal spüren, wie weh es uns tut!“
Die zwölf Recken verbleuten den Gutsherrn, bis der Alte sagte: „Ihr zwölf Recken, steigt zurück in das Fäßchen!“
Da lief der Gutsherr schnell davon. Ob er die Mütze mitgenommen hat oder nicht, weiß man nicht, aber seinen Pelz hatten sie ihm in Stücke gerissen. So blieb der Alte mit seinem Beutel und seinen Beschützern zurück, und niemand rührte ihn mehr an.

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