Der arme Bauernbursche und der reiche Marko

Auf der breiten Landstraße, auf welcher die Salzfuhrleute einst nach der Krim fuhren, um Salz einzukaufen, reiste in jenen Tagen der reiche Marko. Hinter ihm folgte ein ganzer Wagenzug voller Waren.
Dieser Kaufmann war so reich, daß sich die Kunde von seinem Reichtum im ganzen Lande verbreitete und auch bis in unsere Gegend drang. Eines schönen Tages fihr der reiche Marko durch ein kleines Dorf, und dort ereignete sich folgendes: Kaum hatte er den Dorfeingang passiert, da lief ihm aus einer Hütte ein Mann entgegen und bat und flehte ihn an, bei seinem Kinde Taufpate zu stehen. Anfangs war Marko über diese Zumutung empört, dann aber besann er sich, willigte ein und dachte: »Vielleicht ist das sogar ein glückliches Zeichen!“
Der Kaufmann stand also Pate, nahm darauf am Festmahl teil, beschenkte den Täufling und machte sich wieder auf den Weg. Wie er nun so weiterfuhr und gemütlich seine Pfeife rauchte, warf er einen zufriedenen Blick auf den Wagenzug, der sich hinter ihm eine Werst lang hinzog.
Bei Einbruch der Dunkelheit erreichte er die Heimatstadt. Die Bewohner empfingen ihn mit Salz und Brot und geleiteten ihn bis an seinen Palast. Marko befahl den Treibern, die Waren abzuladen, nahm ein üppiges Abendbrot ein und ging zu Bett. Bald war er eingeschlafen. Im Traum aber erschien Marko der Täufling und sprach zu ihm:
„Hör mal, Marko, einst wird dein Reichtum mir gehören.“ Marko erboste sich darüber und schrie laut im Traum auf. Dann aber erschrak er, lag still und rührte sich nicht. Denn er sah, wie sich ein Riesenvogel auf ihn herabließ, der war so groß, daß selbst die Sonne von ihm verdeckt wurde. Und es ward dunkel wie in einer Herbstnacht. Nichts war zu sehen, nur noch das Funkeln der Krallen des Riesenvogels.
Dieser aber packte Marko mit den Krallen am Gürtel und trug ihn über das Land. Marko erschien es plötzlich, als sei sein Körper so schwer wie Blei. Und der Vogel flog mit ihm, flog mit ihm über das Land und, siehe, da war schon das Meer unter ihnen.
Der Vogel kreiste über dem Meer und öffnete auf einmal die Krallen. Eiskalt wurde es Marko vor Schreck, sein Herz pochte so laut wie das eines gefangenen Hasen.
Sausend stürzte Marko hinunter. Nur noch wenige Meter, und er würde ins Meer stürzen! „Verloren!“ durchfuhr es ihn blitzschnell. Doch nein, er wurde nicht durch den Aufprall zerschmettert, und er fiel auch nicht ins Wasser…
Der Kaufmann erwachte nämlich, schlief aber nun bis zum Morgen nicht wieder ein. Der Täufling kam ihm nicht aus dem Sinn. Und der reiche Mann grämte sich darüber, daß er all seinen Reichtum verlieren sollte. Am Tage vergaß er es über seinen Geschäften. Aber seit jenem Traum waren seine Nächte voller Unruhe. Kaum schlief er ein, war auch schon der Täufling da. Groß und stämmig stand er vor ihm in seinem weißen Leinenhemd und sagte lächelnd:
„Einst wird dein Reichtum mir gehören.“
Wütend wollte sich Marko im Traum auf ihn stürzen, doch vergebens. Weder die Hände noch die Füße konnte er bewegen, so, als hätte sie ihm jemand festgebunden. Ja, er vermochte nicht einmal zu schreien.
Lange quälte sich der reiche Marko ab, bis er sich endlich entschloß, den Täufling loszuwerden.
Als er eines Tages wieder durch jenes Dorf fuhr, besuchte er seinen Gevatter. Und er sah, daß sich der Täufling aufs Haar genau zu solch einem Jüngling entwickelte wie jener, der ihm allnächtlich im Traum erschien. Der Knabe begann sogar schon so zu lächeln wie dieser, nur konnte er noch nicht sagen: „Einst wird dein Reichtum mir gehören.“ Doch diese Worte schienen ihm schon auf den Lippen zu schweben. Der reiche Marko erschrak vor dem Kleinen und sagte zu seinem Gevatter:
„Verkaufe mir, Gevatter, deinen Sohn! Auch ohne ihn hast du Kinder genug. Ich aber werde aus ihm einen tüchtigen Kosaken machen.“
„Nein, das werde ich nicht tun“, erwiderte der Bauer. „Habe ich auch viele Kinder, so sind sie doch mein ganzes Vermögen.
Setzen sie sich zu Tisch, dreht sich mir das Herz im Leibe herum. Wenn sie mir aber einst bei der Arbeit helfen können, dann wird meine Seele frohlocken.“
Der reiche Marko versuchte nun, auf jegliche Weise seinen Gevatter zu überreden. Schüeßüch flehte er ihn an, ihm doch den Knaben zu verkaufen. Und es gelang ihm auch, für eine große Summe das Kind zu erhalten.
Als nun der Kaufmann Marko mit seinem Wagenzug das Dorf verlassen hatte, befahl er seinen Knechten, ein haltbares Fäßchen mit Pech zu verschmieren. Die Knechte taten, wie ihnen befohlen ward, und Marko legte den Knaben hinein. Man setzte einen festen Boden in das Fäßchen ein, und als sie an einem Fluß vorbeikamen, warf Marko es ins Wasser und zog weiter.
Das Fäßchen aber schwamm auf dem Strom und gelangte zu einem Nonnenkloster. Gerade um diese Zeit wuschen die Nonnen die Wäsche am Fluß, bemerkten das Fäßchen und zogen es ans Ufer. „Wir werden es zum Gurkeneinlegen nehmen“, sprachen sie. Sie brachten es ins Kloster, öffneten es und – siehe! – ein Knäblein lag darin. Nun, was sollte man da schon machen! Zurück ins Wasser konnte man es schließlich nicht werfen! Und die Nonnen beschlossen, das Knäblein im Kloster zu behalten.
Der Knabe wuchs und wurde ein solch schöner Jünghng, daß die Nonnen Angst bekamen, ihn noch länger im Kloster zu behalten. Sie gaben ihm also ein Stück Brot auf den Weg und geleiteten ihn zum Tor hinaus. Der Jüngling aber verdingte sich bald bei diesem, bald bei jenem Herrn, bis er eines Tages auch an den Hof des reichen Marko kam. Marko sah, daß der Junge kräftig und schön war, und er beschloß, ihn als Obertreiber einzustellen.
Eines Tages befahl er den Jüngling zu sich und fragte ihn:
„Wer bist du eigentlich? Woher stammst du?“
„Gott allein weiß, wer ich bin. Eine Familie habe ich nicht. Nonnen zogen mich aus dem Fluß, als ich in einem Fäßchen an ihnen vorbeischwamm“, erwiderte dieser lächelnd.
Als Marko dieses Lächeln erblickte, wurde er kreidebleich und glaubte, in einen Abgrund zu stürzen. Sogleich erkannte er sein Patenkind, und es schien ihm, daß dieses alsbald sagen werde: „Einst wird dein Reichtum mir gehören.“ Allein der Jüngling stand nur da und lächelte.
„Na schön“, sprach Marko, „ich möchte dich zu meinem Hauptgehilfen machen. Doch vorher mußt du einen wichtigen Auftrag ausführen. Weit von hier, hinter dem Blauen Meer befindet sich ein mir unbekanntes Land, wo man gute Ware für wenig Geld kaufen kann. Fahre also dorthin und kundschafte aus, was es dort gibt.“
Jenes Land aber hatte bisher noch niemand gesehen. Bevor man zu dem Blauen Meer kam, war noch ein Fluß zu überwinden, der wegen seiner starken Stromschnellen und Strudel gefürchtet war. Ein Fährmann tat dort Dienst, der galt als ein Erzbösewicht. Mitten im Fluß warf er seinen jeweiligen Passagier ins Wasser hinein. Und über das schier imendliche Blaue Meer gelangte kein Mensch, denn in dem Meer lebte ein gewaltiger Walfisch, der alle Schiffe umwarf, die Kurs auf das unbekannte Land nahmen.
Der Jüngling machte sich auf den Weg in die unbekannte Ferne. Marko aber war nun überglücklich. Manchen hatte er schon dorthin geschickt, keiner war zurückgekehrt.
Der Jüngling zog seines Weges, bis er endlich am Ufer eines breiten, brausenden Flusses stand. Der bloße Anblick dieses Flusses genügte schon, um einem Furcht einzujagen, geschweige denn, eine Fahrt über dieses reißende Gewässer zu wagen. Doch der Jüngling rief den Fährmann herbei und zwar mit solch mächtiger Stimme, daß dieser bis ins Mark erschrak und sein Kahn zu wanken begann.
Der Fährmann kam heran und fragte:
„Woher und wohin des Weges, du Lümmel?“
„Vom Kaufmann Marko komme ich und will übers Blaue Meer fahren“, erwiderte der Jüngling.
Er sprang ins Boot, und sie fuhren dem anderen Ufer entgegen. Den Alten aber ließ er nicht aus den Augen. Sobald sie die Mitte des Flusses erreicht hatten, wo der Strudel am stärksten war, hieb der Fährmann mit dem Ruder das Boot entzwei. Die Hälfte des Bootes, in welcher der Alte saß, war schon hinter den Klippen; die andere jedoch, in der sich der Jüngling befand, geriet in den stürmischen Wasserwirbel. Da glaubte der Jüngling, sein letztes Stündlein sei gekommen, denn bald mußte seine Bootshälfte an den Klippen zerschellen. Aber wie durch ein Wunder gelangte das Boot immer wieder an den Klippen vorbei. Der Jüngling schaute sich das Boot näher an und sah, wie vier wunderschöne Meerjungfrauen neben diesem einherschwammen und es sachte führten, wobei sie ihn ansahen und Lieder sangen. Sie führten das Boot aus dem Strudel heraus und legten am anderen Ufer an. Der Jüngling dankte ihnen, sprang aus dem Boot und setzte seinen Weg zu dem Blauen Meer fort.
Eine Woche lang irrte er in der Steppe umher und glaubte schon, vor Durst umkommen zu müssen. Da sah er in der Ferne das Blaue Meer schimmern. Er nahm alle Kraft zusammen und lief dem Meer entgegen. Und wie er so lief und vor Kraftlosigkeit zu stolpern begann, begegnete ihm plötzlich ein alter Mann mit schlohweißem Haar. Der alte Mann hielt ihn an und fragte:
„Wohin eilst du, Jüngling?“
„Ich will über das Blaue Meer“, erwiderte dieser.
„Und wer, mein Sohn, schickt dich hierher?“ fragte der Alte.
„Marko, der reiche Kaufmann.“
„Höre gut zu, Jüngling, vas ich dir nun sagen werde. Schreckliches führte dieser Marko im Schilde, als er dich fortschickte. Ich bin an dieser Küste alt und grau geworden. Viele vor dir sind hier schon umgekommen. Selten geschah es, daß es jemandem gelang, über das Blaue Meer zu kommen, jedoch niemand kehrte zurück. Wenn du aber über das Blaue Meer willst, so warte hier, bis der Walfisch seinen Schwanz der Küste zuwendet. Steige dann geschwind auf seinen Rücken, verstecke dich neben dem Kopf und harre aus, bis er aufs Meer hinaus und an die gegenüberliegende Küste schwimmt. Dann springe schnell ans Ufer. Doch vergiß auch dieses nicht: Jenseits des Meeres lebt ein grausamer König, ein Freund und Gefährte des Kaufmanns Marko. Diesem König darfst du mit keinem Wort verraten, woher du kommst. Verrätst du dich aber, bist du verloren!“
Der Junge bedankte sich von ganzem Herzen bei dem Alten und legte den Rest des Weges bis zur Meeresküste zurück. Dort setzte er sich hin und erwartete die Ankunft des Walfisches. Lange wartete er vergebens. Erst gegen Abend erschien auf der Meeresoberfläche ein gewaltiges, inselartiges Stück Land, aus dessen Mitte eine große Fontäne emporstieg. Als sich die Insel dem Ufer näherte, erhob sich auf dem Meer ein ungeheuerlicher Sturm. Sobald der Junge den riesigen Schwanz erblickte, kletterte er rasch über die klobigen Ufersteine zu ihm hin und lief dann über den mächtigen Rücken bis zur Fontäne, wo sich nach den Worten des Alten der Kopf des Walfisches befand.
Ungefähr fünf Stunden lief der Junge, bis er endlich zu der Fontäne kam. Sieben Wochen lang schwamm der Walfisch bis zur gegenüberliegenden Meeresküste. Unterwegs fing der Junge mit seinem Hemd Fische und stillte damit seinen Hunger. Zu Beginn der achten Woche erblickte er Land und sprang ans Ufer.
Kaum hatte er den Fuß auf den Boden gestellt, da ergriffen ihn auch schon die Knechte des Königs und führten ihn sogleich vor den König. Als dieser ihn fragte, wer er sei und woher er komme, erzählte ihm der Jüngling:
„Ich fuhr mit Schiffen über den großen Ozean, weit weg vom Blauen Meer. Eines Tages überfiel uns der Walfisch und verschluckte alle unsere zwölf Schiffe. Ich aber befand mich gerade auf dem Deck und geriet zusammen mit dem Wasser, das sich gleich einer Fontäne aus dem Kopf des Walfisches erhebt, auf dessen Rücken. Dort hielt ich mich auf, bis der Walfisch diese Küste erreichte.“
Dem König erschien die Geschichte glaubhaft, und er ließ den Jüngling auf freien Fuß setzen.
Lange irrte der Jüngling in dem fremden Land umher, kundschaftete es gut aus, erlernte die Landessprache, erfuhr dies und jenes und kehrte auf demselben Wege wohlbehalten zurück. Als er zum reichen Marko kam, erzählte er diesem alles, was er vom Land jenseits des Blauen Meeres wußte. Wütend sattelte Marko darauf sein Pferd und ritt zu dem Fährmann, denn er glaubte, dieser habe ihn verraten.
Dem Fährmann aber wollte es scheinbar nicht gelingen, am Ufer anzulegen. Und er bat Marko, das Ruder zu ergreifen und ihm zu helfen. Als Marko aber das Ruder ergriff, sprang der Alte aus dem Boot, und Marko mußte darin als Fährmann bleiben. Dieses Ruder hatte nämlich folgende Eigenschaft: Wer es ergriff, der konnte es nicht mehr loslassen und mußte den Fährmannsdienst so lange versehen, bis Ablösung kam.
Seit jener Zeit ist Marko Fährmann. Der Junge aber verteilte Markos Reichtum unter die Armen. Diese ließen sich’s nun Wohlergehen, und überall herrschte Freude und Glück.

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