Einst war der Fink König, und die Maus war Königin. Sie besaßen beide ein Feld. Auf diesem Feld säten sie Weizen. Als der Weizen gediehen war. teilten sie die Körner untereinander. Ein Korn aber blieb übrig. Da sprach die Maus:
„Das Korn gehört mir.“
Der Fink jedoch entgegnete:
„Nein, mir gehört es.“
Beide überlegten nun, was zu tun sei. Da es aber keinen Angeseheneren als sie gab, der ihre Sache hätte entscheiden können, schlug die Maus schließlich vor:
„Nun, ich beiße am besten das Korn entzwei.“
Der Fink erklärte sich einverstanden. Als aber die Maus das Korn zwischen die Zähne genommen hatte, huschte sie schnell ins Mauseloch hinein. Darauf rief der verärgerte König Fink alle Vögel zusammen, um die Königin Maus zu bekriegen. Die Königin jedoch versammelte die Tiere um sich und bereitete die Verteidigung vor. Der Krieg begann. Als die Tiere in den Wald kamen und die Vögel zerreißen wollten, flogen diese flink auf einen Baum. Die Vögel aber hackten im Fluge auf die Tiere ein… So kämpften sie den ganzen Tag. Gegen Abend setzten sich alle hin, um auszuruhen. Als sich die Königin umsah, merkte sie, daß die Ameise auf dem Schlachtfeld fehlte. Da erließ sie den Befehl, die Ameise solle unverzüglich zu ihr kommen. Als diese erschien, befahl ihr die Königin, in der Nacht auf die Bäume zu kriechen und allen Vögeln die Flügelfedern abzubeißen.
Noch ehe es am nächsten Tag zu dämmern begann, rief die Königin:
„Auf, auf zum Kampf!“
Die Vögel, die sich ebenfalls zum Kampf anschickten und in die Lüfte aufsteigen wollten, fielen zu Boden und wurden von den Tieren zerrissen.
So gelang es der Maus, das Heer des Finken zu besiegen. Der Adler jedoch merkte rechtzeitig, welchen Ausgang die Sache nahm, und blieb auf dem Baum sitzen. Da kam ein Jäger des Wegs, sah den Adler auf dem Baum und legte auf ihn an. Der Adler aber flehte:
„Schieße nicht auf mich, Freund, denn ich werde dir noch von großem Nutzen sein.“
Als der Jäger wiederum das Gewehr erhob, bat der Adler abermals:
„Nimm mich lieber zu dir und pflege mich gesund. Du sollst es nicht bereuen, denn ich werde dir sehr nützlich sein.“
Der Jäger aber zielte zum dritten Male, und wieder bat der Adler:
„Ach, Freund und Bruder, töte mich nicht. Nimm mich zu dir, ich werde dir von sehr, sehr großem Nutzen sein.“
Der Jäger glaubte ihm endlich, kletterte auf den Baum, holte den Adler herunter und brachte ihn nach Hause. Dort sprach der Adler:
„Trage mich ins Haus hinein und füttere mich so lange, bis meine Federn wieder nachgewachsen sind.“
Der Jäger besaß zwei Kühe und einen Stier. Unverzüglich schlachtete er eine Kuh für den Adler. Dieser verzehrte die Kuh im Verlaufe eines Jahres, dann sprach er zu dem Jäger:
„Laß mich frei, denn ich möchte fliegen und nachprüfen, ob mir die Flügel schon wieder gewachsen sind.“
Der Jäger ließ ihn frei. Der Adler flog und flog, und um die Mittagszeit kehrte er zu dem Jäger zurück und meinte:
„Ich bin doch noch ziemlich schwach, schlachte bitte auch die andere Kuh.“
Der Jäger tat, wie der Adler ihn gebeten hatte, und schlachtete die andere Kuh. Der Adler verzehrte sie im Verlauf eines Jahres, dann flog er abermals auf. Diesmal kam er erst am Abend zurück und sprach:
„Schlachte bitte nun den Stier.“
Der Jäger dachte bei sich: ,Was tim? Muß ich wirklich noch den Stier schlachten?4 Aber schließlich sagte er:
„Ich habe schon so viel verloren, da kommt es auf den Stier auch nicht mehr an.“
Und er schlachtete den Stier. Als der Adler den Stier nach einem Jahr verzehrt hatte, probierte er wieder seine Flügel aus. Er flog so hoch, daß er mit den Flügeln die Wolken berührte. Als er zu dem Jäger zurückgekehrt war, sprach er: „Hab Dank, lieber Mann! Du hast mich gepflegt und zu Kräften kommen lassen, nun schwing dich auf meinen Rücken.“
Der Jäger fragte erstaunt:
„Warum soll ich mich auf deinen Rücken setzen?“
Der Adler erwiderte freundlich:
„Hab keine Angst, sitz nur ruhig auf!“
Da schwang sich der Jäger auf den Rücken des Adlers. Der Adler trug ihn bis zu den Wolken hinauf, dort ließ er ihn plötzlich fallen, fing ihn kurz darauf wieder auf und fragte:
„Nun, wie bekam es dir?“
Der Jäger versetzte erschrocken:
„Mich dünkte, ich hätte bereits meine Seele ausgehaucht.“ Darauf meinte der Adler:
“Genau dasselbe habe ich gefühlt, als du zum ersten Male nach mir zieltest.“
Dann setzte er hinzu:
„Sitz wieder auf!“
Der Jäger wollte sich nicht mehr auf den Rücken des Adlers schwingen. Allein es half ihm nichts, er mußte aufsitzen. Der Adler trug ihn aufs neue bis in die Wolken hinein und warf ihn ab, fing ihn aber wieder auf, noch ehe er den Boden erreicht hatte, und fragte ihn:
„Nun, wie bekam es dir?“
Der Jäger erwiderte furchtsam:
„Mich dünkte, meine sämtlichen Knochen seien schon zerbrochen.“
Darauf sprach der Adler zu ihm:
„Genau dasselbe habe ich gefühlt, als du zum zweiten Male nach mir zieltest. Num aber sitze wieder auf!“
Dem Jäger blieb nichts übrig, als sich ein drittes Mal auf den Rücken des Adlers zu schwingen.
Erneut erhob sich der Adler in die Lüfte und trug den Mann bis über die Wolken. Dort ließ er ihn ebenso plötzlich wie zuvor fallen und fing ihn knapp über dem Boden auf. Darauf fragte er ihn:
„Wie bekam es dir, als du zur Erde fielst?“
Noch ganz benommen von dem langen Fall erwiderte der, Jäger:
„Mich dünkte, ich lebte überhaupt nicht mehr!“
Da sprach der Adler:
„Genau dasselbe habe ich gefühlt, als du nach mir zum dritten Male zieltest.“
Dann setzte er hinzu:
„Nim sind wir quitt. Und jetzt sitz wieder auf, wir fliegen zu mir nach Hause.“
Und sie flogen und flogen, bis sie zum Onkel des Adlers kamen. Da sagte der Adler zu dem Jäger:
„Gehe ins Haus hinein! Fragt man dich dort, ob du mich nicht gesehen hast, so antworte: ,Gebt mir das Wunderei, dann werde ich eueren Neffen bringen‘.“
Nachdem der Jäger ins Haus eingetreten weit, fragte man ihn:
„Kamst du aus freien Stücken oder als ein Gefangener?“ Der Jäger antwortete stolz:
„Ein echter Kosak kommt stets aus freien Stücken.“
Darauf fragten ihn die Adler:
„Kam dir nichts von unserem Neffen zu Ohren? Der dritte Sommer geht schon vorüber, seitdem er in den Krieg gezogen ist, und noch immer läßt er nichts von sich hören.“
Der Jäger sprach:
„Gebt mir das Wunderei, dann werde ich ihn euch bringen.“ Aber die Adler erwiderten entrüstet:
„Besser ist’s, ihn nie wiederzusehen, als dir das Wunderei zu geben.“
Darauf verließ der Jäger das Haus und sagte zu dem Adler: „Deine Verwandten sprachen: ,Besser ist’s, ihn nie wiederzusehen, als dir das Wunderei zu geben‘.“
Als der Adler dies hörte, sagte er:
„Las uns weiterfliegen!“
Sie flogen und flogen, bis sie zu dem Bruder des Adlers kamen. Aber auch dieser gab das Wunderei nicht heraus.
Nun flogen sie zu dem Vater des Adlers, und der Adler sprach abermals:
„Geh ins Haus hinein! Fragt man dich nach mir, so sage, du habest mich gesehen und könntest mich bringen.“
Der Jäger ging ins Haus, und der Vater des Adlers fragte ihn:
„Kommst du aus freien Stücken oder als ein Gefangener?“ Stolz versetzte der Jäger:
„Ein echter Kosak kommt stets aus freien Stücken.“
Da fragte ihn der Adlervater:
„Hast du unseren Sohn nicht gesehen? Bereits der vierte Sommer ist verstrichen, seitdem er in den Krieg gezogen ist; er wird sicher getötet worden sein.“
Darauf erwiderte der Jäger:
„Ich sah ihn! Wenn ihr mir das Wunderei gebt, so sollt ihr ihn Wiedersehen.“
Der Adlervater fragte ihn erstaunt:
„Sag, wozu brauchst du das Ei? Wir würden dir lieber viel Geld geben.“
“Ich brauche kein Geld. Gebt mir das Wunderei!“
„Geh und bringe unseren Sohn, dann bekommst du es.“ Nim brachte der Jäger den Adler. Die Eltern des Adlers freuten sich über alle Maßen. Sie gaben dem Jäger das Wunderei und sprachen: (
„Sieh zu, daß du es unterwegs nicht zerbrichst. Bringst du es nach Hause, so baue ein großes Gatter und schlage es erst dann entzwei.“
Der Jäger ging und ging und verspürte plötzlich heftigen Durst. Endlich fand er einen Brunnen. Als er aber zu trinken begann, zerbrach er aus Versehen das Wunderei am Zuber. Da stürzte aus dem Ei eine riesige Viehherde hervor. Der Jäger rannte, so schnell er konnte, dem Vieh hinterher. Kaum hatte er aber einige Tiere zusammengetrieben, liefen die anderen schon wieder auseinander. Vergeblich schrie der Arme das Vieh an. Doch wie sehr er sich auch bemühte, er konnte allein der Herde nicht Herr werden. Da kam ein Drache angeflogen und sprach zu ihm:
„Was gibst du mir dafür, wenn ich dir das Vieh in das Ei zurücktreibe?“
Der Jäger fragte:
„Was möchtest du denn gern?“
„Gib mir das, was in deinem Hause während deiner Abwesenheit zur Welt gekommen ist.“
Da versprach ihm der Jäger das Gewünschte.
Nun trieb der Drache das Vieh der Reihe nach ins Ei zurück, klebte es säuberlich zu und reichte dann dem Jäger das Ei.
Als der Jäger nach Hause kam, lief ihm seine Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand entgegen. Da schlug er die Hände über den Kopf zusammen und rief:
„Dich, mein Sohn, muß ich dem Drachen ausliefern!“
Nun versanken er und seine Frau in tiefe Trauer, dann sprachen sie:
„Da ist nichts zu machen! Trauern hilft uns nicht weiter, irgendwie müssen wir doch leben.“
Der Mann baute also ein riesiges Gatter, zerschlug das Ei und gab das Vieh frei. Bald ward er ein steinreicher Mann. So lebten sie, bis der Sohn zu einem Jüngling herangewachsen war. Da sprach dieser:
„Vater, Ihr habt versprochen, mich dem Drachen auszuliefern. Nim, seid nicht traurig, wenn ich jetzt gehe. Ich werde mir schon zu helfen wissen.“
Er machte sich auf den Weg und begab sich zu dem Drachen.
Als er bei der Behausung des Drachen anlangte, war der Drachen gerade nicht zu Hause, aber sein Weib – nicht weniger fürchterlich als ihr Mann – meinte:
„Drei Dinge verlange ich von dir! Erfüllst du sie darfst du nach Hause zurückkehren! Erfüllst du sie nicht, werde ich dich auffressen!“
In der Nähe der Drachenbehausung gab es eine große Wiese. Diese war so groß, daß ein Menschenauge sie kaum überblicken konnte. Dort sprach das Drachenweib zu dem Jüngling:
„In einer einzigen Nacht mußt du diese Wiese pflügen, Weizen säen, ihn mähen und in Schobern häufeln, ein Weizenbrot backen und in der Frühe, ehe ich erwacht bin, das Brot in meinem Hause auf den Tisch legen.“
Betrübt ging der Jüngling an einen Teich und überließ sich seinem Kummer.
In der Nähe des Teiches aber stand eine Säule. In diese Säule hatte man die Tochter des Drachen eingemauert. Als sich der Jüngling an die Säule lehnte und so vor sich hin seufzte, fragte ihn die Drachentochter:
„Warum seufzest du?“
Der Jüngling entgegnete mutlos:
„Was bleibt mir schon anderes übrig als zu seufzen? Deine Mutter, das Drachenweib, hat mir befohlen, etwas in einer einzigen Nacht zu tim, was ich nie im Leben in dieser Frist schaffen werde.“
„Und was hat sie von dir verlangt?“
Nachdem der Jüngling es ihr erzählt hatte, sprach das Mädchen:
„Nimmst du mich zum Weib, so werde ich alles tun, was sie dir befohlen hat.“
Der Jüngling erklärte sich einverstanden. Erfreut versetzte die Tochter des Drachen:
„Nun aber leg dich schlafen, und wenn du frühmorgens erwachst, bringst du meiner Mutter das Weizenbrot.“
Die Drachentochter ging auf die Wiese, und nachdem sie nur einmal gezischt hatte, pflügte sich die Erde von selber. Auch das Korn säte sich ohne ihr Zutun. In aller Frühe gab sie dem Jüngling ein gebackenes Weizenbrot. Er brachte das Brot dem Drachenweib in das Haus und legte es dort auf den Tisch.
Das Drachenweib erwachte, trat aus dem Haus hinaus und schaute zu der Wiese. Auf der aber waren nur noch Stoppeln und Strohschober zu sehen. Darauf sagte sie zu dem Jüngling: „Nun, ich sehe, du hast es geschafft. Gib aber acht, daß du auch die zweite Aufgabe zuwege bringst.“
Und sie befahl ihm:
„Trage diesen Berg ab und leite den Dnepr hierher. An seinem Ufer aber errichte große Speicher und einen Hafen, in dem Schiffe anlegen können, damit du den Schiffseigentümern den Weizen verkaufen kannst. Frühmorgens, wenn ich aufstehe, hat alles fertig zu sein.“
Wieder ging der Jüngling zu der Säule und seufzte. Da fragte ihn die Tochter des Drachen:
„Warum seufzest du so?“
Der Jüngling berichtete ihr, was ihm das Drachenweib zu tun befohlen hatte. Da sprach das Mädchen:
„Leg dich hin und schleife! Ich mache das schon.“
Es brauchte nur einmal zu zischen, da trug sich der Berg von selber ab. Der Dnepr veränderte seinen Lauf zu der gewünschten Stelle, an der es nach wenigen Augenblicken bereits mehrere Speicher und einen Hafen gab. Darauf kam das Mädchen zu dem Jüngling und weckte ihn. Bald hatte dieser den Weizen an die Kaufleute auf den Schiffen verkauft. Das Drachenweib erwachte, und vor ihren Augen stand alles so da, wie sie es gewünscht hatte.
Da trug sie ihm die dritte Aufgabe auf:
„Fange heute in der Nacht den Goldenen Hasen und bringe ihn mir in aller Frühe nach Hause.“
Abermals ging der Jüngling zu jener Säule und seufzte und seufzte. Da fragte ihn das Mädchen:
„Was hat sie dir diesmal befohlen?“
Er erwiderte:
„Sie hieß mich, heute in der Nacht den Goldenen Hasen zu fangen.“
Darauf versetzte die Drachentochter:
„Das ist keine Kleinigkeit. Niemand weiß, wie man ihn fangen kanm Doch laß uns zu jenem Felsen dort gehen.“
Dann setzte sie hinzu:
„Stell dich vor die Höhle! Du mußt den Goldenen Hasen fangen. Ich aber werde versuchen, ihn herauszujagen. Gib aber gut acht, und sei ja nicht furchtsam! Sobald jemand versucht, die Höhle zu verlassen, mußt du fest zupacken. Bestimmt wird das der Goldene Hase sein.“
Das Mädchen kroch in die Höhle hinein. Kurz darauf kam eine Schlange zischend herausgekrochen. Der Jüngling ließ die Schlange vorbei. Als das Mädchen aus der Höhle kam, fragte es ihn:
„Nun, kam nichts hervorgekrochen?“
Der Jüngling erwiderte:
„Nein, bloß eine Schlange kam heraus. Ich fürchtete, sie würde mich beißen und ließ sie daher ihres Weges ziehen.“ . Das Mädchen aber sagte ärgerlich zu ihm:
„Daß dich der Teufel… Das war doch der Goldene Hase! Nun sei aber diesmal auf der Hut! Ich gehe noch einmal hinein. Wenn wieder jemand aus der Höhle herauskommt und sagt, der Goldene Hase sei nicht da, so glaube ihm nicht und packe fest zu!“
Sie ging wieder in die Höhle und jagte den Hasen hinaus. Dieser hatte jedoch die Gestalt eines uralten Weibes angenommen, welches den Jüngling fragte:
„Was suchst du denn hier, mein Söhnchen?“
Arglos erwiderte der Jüngling:
„Ich suche den Goldenen Hasen!“
Verwundert sprach die Alte:
„Wieso soll denn der hier sein? Einen Goldenen Hasen gibt es hier nicht.“
Sprach’s und ging an ihm vorbei. Als aber das Mädchen aus der Höhle kam, fragte es ihn erstaunt:
„Wie, hast du auch diesmal den Hasen nicht fangen können? Kam denn gar niemand aus der Höhle?“
Der Jüngling versetzte:
„Niemand… doch ein altes Weib kam heraus und fragte mich, was ich hier wolle. Ich aber erzählte ihr, daß ich den Goldenen Hasen suche. Darauf entgegnete sie, hier sei kein solcher Hase, und ich ließ die Alte ihres Weges ziehen.“
Da sprach das Mädchen enttäuscht:
„Warum hieltest du das alte Weib nicht fest? Es war doch der Goldene Hase! Nun können wir seiner nicht mehr habhaft werden. Nur noch einen Ausweg gibt es für uns: Ich verwandele mich in einen Hasen, und du bringst mich zu meiner Mutter und legst mich auf den Tisch. Aber gib mich ihr auf keinen Fall in die Hand; dann würde sie mich erkennen, und wir beide wären rettungslos verloren.“
Wirklich verwandelte sich das Mädchen in den Goldenen Hasen, und er brachte diesen dem Drachenweib, legte ihn auf den Tisch und sprach:
„Hier ist der Hase, und nun will ich nach Hause zurückkehren.“
Darauf sagte sie:
„Gut, du kannst gehen!“
Das ließ sich der Jüngling nicht zweimal sagen. Kaum hatte auch das Drachenweib das Haus verlassen, verwandelte sich der Hase in ein Mädchen zurück, folgte dem Jüngling, und die beiden liefen zusammen davon. Sie rannten so schnell sie nur konnten. Als aber das Drachenweib merkte, daß sie von ihrer Tochter genasführt worden war, dachte sie sofort daran, sie zu verfolgen, um sich an dem Jüngling und dem Mädchen zu rächen. Allein sie setzte ihnen nicht selber nach, sondern befahl ihrem Mann, dem Drachen, die Verfolgung aufzunehmen. Sofort machte der sich auf den Weg. Die Flüchtigen vernahmen, daß der Boden unter ihren Füßen zu beben begann… Da sprach das Mädchen:
„Wir werden verfolgt. Ich verwandle mich in ein Weizenfeld und dich in einen alten Mann. Fragen dich die Verfolger, ob hier ein Jüngling und ein Mädchen vorbeigelauften sind, so antworte, sie seien vorbeigelaufen, als man diesen Weizen säte.“
Bald darauf kam der Drache angeflogen und fragte den Alten:
„Hast du nicht einen Jüngling und ein Mädchen hier vorbeilaufen sehen?“
Der Alte erwiderte:
„O ja, sie liefen hier vorbei.“
Der Drache fragte:
„Ist es schon lange her, daß sie hier vorbeigelaufen sind?“
Der Alte versetzte:
„Sie liefen hier vorbei, als man diesen Weizen säte.“
Da sprach der Drache:
„Dieser Weizen muß bald schon gemäht werden; der Jüngling und das Mädchen sind jedoch erst gestern verschwunden.“ Und er kehrte um. Die Drachentochter aber verwandelte sich wieder in ein Mädchen zurück, den Alten wieder in einen Jüngling, und sie setzten zusammen die Flucht fort.
Als der Drache nach Hause kam, fragte ihn sein Weib: „Wie! Hast du die beiden nicht eingeholt? Bist du denn unterwegs niemandem begegnet?“
Der Drachenmann erwiderte:
„Bloß einem Alten, der ein Weizenfeld hütete. Auf meine Frage, ob er nicht einen Jüngling und ein Mädchen gesehen habe, entgegnete er, daß er sie habe vorbeilaufen sehen, als man den Weizen säte. Der Weizen aber war bereits reif. Darum machte ich kehrt.“
Darauf sprach das Drachenweib:
„Warum hast du jenen Alten mitsamt dem Weizen nicht vernichtet? Das waren doch die Geflüchteten! Fliege ihnen nun abermals nach, doch sieh, daß sie dir diesmal nicht entgehen!“ Da kam der Drache angeflogen, daß die Erde unter den Füßen der beiden dröhnte.
Nun sprach das Mädchen:
„Hör nur, er kommt wieder geflogen! Ich verwandle mich in ein altes Kloster und dich in einen Mönch. Fragt er dich, ob hier ein Jüngling und ein Mädchen vorbeigelaufen sind, so antworte, du habest sie zu der Zeit gesehen, als man dieses Kloster erbaute.“
Der Drache kam angeflogen und fragte den Mönch:
„Hast du nicht einen Jüngling und ein Mädchen hier vorbeilaufen sehen?“
Der Mönch entgegnete:
„Ich sah sie, als man dieses Kloster erbaute.“
Da sprach der Drache zu ihm:
„Der Jüngling und das Mädchen sind gestern verschwunden. Dieses Kloster hier aber dürfte schon vor hundert Jahren erbaut worden sein.“
Sprach’s und kehrte um.
Zu Hause angekommen, erzählte er seinem Weib:
„Ich sah einen Mönch in der Nähe eines Klosters. Als ich ihn nach den Geflüchteten fragte, sagte er, sie seien schon zu jener Zeit vorbeigekommen, da man das Kloster erbaute. Allein das Kloster dürfte schon an die hundert Jahre stehen!“
Darauf erwiderte sein Weib:
„Warum nur hast du jenen Mönch nicht getötet? Warum nur hast du jenes Kloster nicht zerstört? Das waren doch die Geflüchteten! Nun aber will ich sie selber verfolgen. Du taugst wahrlich zu nichts!“
Und sie setzte ihnen nach.
Sie verfolgte sie mit Blitzesschnelle…. Da vernahmen die Flüchtenden plötzlich das Donnern der Erde unter ihren Füßen, und der Boden brannte wie Feuer. Das Mädchen sprach zum Jüngling:
„Nun sind wir verloren! Meine Mutter verfolgt uns selbst. Trotzdem laß es uns wagen: Ich verhandle dich in einen Bach und mich in einen Barsch.“
Schon kam das Drachenweib geflogen und sprach zum Bach:
„Na! Da hab ich euch endlich!“
Und sie verwandelte sich augenblicklich in einen Hecht und setzte dem Barsch nach. Wie sie ihn aber packen wollte, wendete dieser ihr seine messerscharfen Flossen zu, so daß sie ihn nicht erwischen konnte. Lange Zeit verfolgte sie ihn hartnäckig. Es gelang ihr jedoch nicht, ihn zu fangen. Da kam ihr der Gedanke, den Bach auszutrinken. Sie trank und trank und schluckte und schluckte… bis sie am Ende von dem vielen Wasser platzte.
Nachdem die Drachentochter sich und den Jüngling wieder zurückverwandelt hatte, sprach sie:
„Nun haben wir nichts mehr zu fürchten. Laß uns zu dir nach Hause gehen. Wenn du aber dort über die Schwelle trittst, so gib acht: Küß jedermann, nur deines Onkels Tochter küsse nicht; denn wenn du sie küßt, wirst du mich vergessen. Ich werde mich einstweilen bei irgend jemand im Dorf verdingen.“
Der Jüngling versprach’s und trat in das Haus. Nachdem er alle begrüßt hatte, dachte er bei sich:
,Wie, warum soll ich nicht auch meines Onkels Tochter begrüßen? Was werden sie sonst von mir denken!‘ Und er küßte auch des Onkels Tochter. Sobald er sie aber geküßt hatte, vergaß er die Drachentochter.
Bald war ein halbes Jahr vergangen, und der Jüngling dachte daran, sich mit einem schönen Mädchen zu verheiraten.
Die Tochter der Drachen aber hatte er völlig vergessen.
Am Abend vor der Hochzeit lud man alle Mädchen des Dorfes ein und trug ihnen auf, die Hochzeitskuchen zu kneten. Unter ihnen war auch die Drachentochter, von der kein Mensch wußte, wer sie war und woher sie gekommen. Die Mädchen machten sich an die Arbeit. Die Drachentochter aber formte eine Taube und einen Täuberich aus dem Teig und stellte sie in der Nähe des Jünglings auf den Fußboden, wo sie lebendig wurden. Da. sprach die Taube zum Täuberich:
„Hast du all das vergessen, was ich für dich getan habe; wie ich die Wiese umgepflügt und den Weizen gesät; wie ich aus diesem Weizen ein Weißbrot gebacken, damit du es dem Drachenweib bringen konntest?“
Der Täuberich erwiderte:
„Vergessen, vergessen hab ich’s!“
Darauf sprach die Taube abermals:
„Hast du vergessen, wie ich für dich den Berg abgetragen und das Wasser des Dnepr umgeleitet habe, damit die Schiffe an den Speichern anlegen und wir den Kaufleuten den Weizen verkaufen konnten?“
Und wieder sagte der Täuberich:
„Vergessen, vergessen hab ich’s!“
Da sprach die Taube ein letztes Mal:
„Hast du vergessen, wie wir versuchten, den Goldenen Hasen einzufangen? Ja, hast du mich denn wirklich völlig vergessen?“
Der Täuberich erwiderte:
„Vergessen, vergessen hab ich’s!“
Der Jüngling, der all dies mit angehört hatte, entsann sich nun endlich des Mädchens, verließ seine Braut und heiratete die Drachentochter. Lange lebten die beiden glücklich miteinander.