Es waren einmal ein alter Mann und ein altes Weib, die litten bittere Not. Eines Tages sprach das Weib zu ihrem Mann:
„Wie wäre es, Alter, wenn du in den Wald gingest und eine Linde fälltest, damit wir etwas zum Heizen haben!“
„Gut!“ sagte der Alte, nahm die Axt und machte sich auf den Weg.
Er kam in den Wald und suchte eine Linde zum Fällen aus. Kaum hob er aber die Axt, hörte er plötzlich die Linde mit einer menschlichen Stimme sprechen:
„Ach, fälle mich nicht, guter Mann! Ich werde dir dafür von Nutzen sein!“
Vor Schreck ließ der Alte die Axt sinken. Eine Weile stand er so da, dachte nach und ging dann nach Hause.
Zu Hause erzählte er von seinem Erlebnis. Da sagte das Weib:
„Wie dumm du doch bist, Alter! Gehe sofort zur Linde zurück und erbitte dir ein Pferd und einen Wagen! Lange genug sind wir auf Erden zu Fuß herumgelaufen!“
„Nun gut!“ erwiderte der Alte, setzte die Mütze auf und ging wieder in den Wald.
Als er zur Linde kam, sprach er:
„Linde, liebe, kleine Linde! Mein Weib wünscht, daß du uns ein Pferd und einen Wagen gibst!“
„Gut!“ sagte die Linde. „Gehe nur nach Hause!“
Als er nach Hause kam, standen neben seiner Hütte Pferd und Wagen.
„Siehst du, Alter“, sprach das Weib, „warum soll es nicht auch uns besser gehen; das Unglück ist nur, daß unsere Hütte einzustürzen droht. Geh, Alterchen, bitte die Linde um eine Hütte, vielleicht gibt sie dir eine!“
Der Alte kam zur Linde und bat um eine Hütte.
„Gut!“ sagte die Linde. „Geh nur nach Hause!“
Als sich der Alte seiner Hütte näherte, erkannte er sie nicht wieder. An der Stelle der schäbigen alten Hütte stand eine funkelnagelneue da. Der Mann und sein Weib freuten sich darüber wie Kinder.
„Wie wäre es, Alter, wenn du auch noch um Vieh und Geflügel bitten würdest? Dann, glaube ich, hätten wir nichts mehr nötig.“
Der Alte ging wieder zur Linde und bat um Vieh und Geflügel.
„Gut!“ sagte die Linde. „Gehe nur nach Hause!“
Als der Alte nach Hause kam, strahlte er vor Freude beim Anblick seines Hofes, der voller Vieh und Geflügel war.
„Na“, sagte der Alte, „jetzt haben wir aber wirklich nichts mehr nötig!“
„Nicht doch, Alterchen, geh und bitte auch noch um Geld!“ Der Alte kam zur Linde und bat um Geld.
„Gut!“ sagte die Linde. „Gehe nur nach Hause!“
Als der Alte nach Hause kam, sah er, wie sein Weib am Tische saß und einen Haufen Geld zählte.
„Siehst du, Alterchen, wie reich wir sind!“ sagte das Weib. ,Allein das ist immer noch zuwenig. Da wir nun reich sind, sollen uns auch alle Leute fürchten! Geh, Alter, bitte die Linde, sie solle dafür sorgen, daß sich jedermann vor uns ängstigt.“ Der Alte kam zur Linde und bat darum, was ihm sein Weib geheißen.
„Gut!“ sagte die Linde. „Gehe nur nach Hause!“
Als er nach Hause kam, sah er seinen Hof von Militär und Polizisten umstellt, die ihn beschützten. Der Alten jedoch war auch das noch nicht genug und sie sprach:
„Nun sollten auch noch alle Dorfbewohner unsere Knechte werden! Mehr können wir uns nicht wünschen, denn sonst haben wir bereits alles.“
Der Alte kam zur Linde und nannte seinen Wunsch. Da schwieg die Linde sehr lange. Dann aber sprach sie:
„Gehe nach Hause! Dies ist das letzte Mal, daß ich etwas für euch tue.“
Der Alte kam nach Hause, aber was mußte er da sehen! Alles, was ihnen die Linde geschenkt hatte, war verschwunden. Die alte Hütte stand an ihrem gewöhnlichen Platz und neben ihr sein Weib.
So strafte sie die Linde dafür, daß das unersättliche Weib aus Menschen Knechte machen wollte.