Es war einmal ein Herr, der liebte die Märchen sehr, noch mehr, als ich sie liebe. Wer auch immer zu ihm kam, den hielt er fest, damit er ihm etwas erzählte.
Da kam einmal ein Soldat vom Militärdienst zurück. Unterwegs übernachtete er bei diesem Herrn. Als es Zeit war sich hinzulegen, bat ihn der Herr: „Erzählt mir ein Märchen!“
Der Soldat begann zu erzählen. Er erzählte ihm ein Märchen, ein zweites und ein drittes. Es war dem Soldaten schon leid, denn er wollte gern schlafen. Der Herr drang aber immer mehr in ihn und sagte: „Erzählt doch noch ein Märchen, noch ein Märchen!“
So quälte er den Soldaten und ließ ihn nicht schlafen. Da dachte der Soldat bei sich: Warte nur, ich werde es schon so einrichten, daß du nicht mehr um Märchen bitten wirst, wenn jemand zu dir kommt.
Schließlich legten sie sich schlafen. Der Herr schickte den Soldaten auf den Hängeboden, und er selbst legte sich auf den Ofen. Am Ofen aber stand ein großer Eimer voll Spülwasser.
Der Soldat kannte ein paar Zaubersprüche. Er wartete, bis der Herr eingeschlafen war, dann stand er auf und ergriff seinen kleinen Finger. Da bekam der Herr einen Alpdruck und begann alles das zu träumen, was der Soldat dachte. Der Sol-dat aber dachte:
Es war einmal eine große Hungersnot ausge-brochen, und ich flog mit dem Herrn zusammen aufs Feld. Wir flogen und flogen und hatten Hun-ger. Da lief das Pferd des Herrn auf dem Felde herum. Ich sagte: ‚Wir werden das Pferd essen! Wir haben Hunger.’
Da antwortete der Herr: ‚Das können wir doch nicht essen. Das ist doch mein Pferd! Es tut mir leid darum.’
Ich sagte: ‚Das darf dir nicht leid tun, der Hun-ger ist keine liebe Tante.’
Da sagte der Herr: ‚Nun gut, essen wir das Pferd!’
Wir aßen das Pferd auf und flogen weiter. Wir stießen auf die Kinder des Herrn, und ich sagte: ‚Es ist gut, daß wir die Kinder gefunden haben. Wir werden sie fangen und aufessen.’
Da sagte der Herr: ‚Wie können wir sie denn aufessen! Das sind doch meine Kinder!’
Ich aber sagte: ‚Der Hunger ist keine liebe Tante, wir müssen sie aufessen.’
Da aßen wir die Kinder auf. Schließlich trafen wir die Frau des Herrn.
Ich sagte: ‚Wir müssen die Frau aufessen.’
Da begann der Herr zu weinen und sagte: ‚Das ist doch meine Frau, ich kann sie doch nicht essen!’
Da sagte ich: ‚Der Hunger ist keine liebe Tante. Wir müssen sie aufessen.’
So verspeisten wir die Frau des Herrn. – Wir fliegen weiter und haben wieder Hunger. Da se-hen wir einen Bären hinter uns herfliegen. Wir fliegen in den Wald. Dort ist eine Bude aus Rin-den, die sich die Holzfäller als Schutz gegen den Regen gebaut haben. Ich sage: ‚Laß uns schnell in die Bude laufen und uns dort verstecken!’
Ich laufe als erster hinein, und der Herr hinter-her. Der Bär kommt zu der Bude gelaufen und kriegt den Herrn zu fassen, denn der Herr liegt direkt am Eingang, und ich an der Wand, so daß der Bär an mich nicht herankann. Ich zerschlage die Rinde, durchstoße die Wand und sagte: ‚Komm Herr, spring über mich hinweg und laß uns fortlaufen!’
Der Soldat hatte sich das alles ausgedacht, als er auf dem Hängeboden lag. Der Herr aber hatte alles geträumt auf dem Ofen. Als er aufsprang, fiel er in den großen Eimer mit Spülwasser. Da wurde er vor Schreck gleich hellwach und schrie: „Ach du mein Gott! Ach du mein Pferdchen, wir haben dich gegessen!“
Da wachte die Frau des Herrn auf und sagte: „Was redest du da für einen Unsinn?“
Er aber schrie: „Ach, meine lieben Kinder! Wir haben euch aufgegessen!“
Die Frau erschrak und begann ebenso laut zu schreien, daß ihr Mann verrückt geworden sei.
Er aber schrie weiter: „Wir haben auch meine Frau aufgegessen! Ach du mein Gott, mein Gott!“
Die Frau aber rief: „Hier bin ich doch, deine Frau!“
„Nein, wir haben dich gegessen!“
Und er konnte es noch lange nicht fassen, daß er sich in seiner Hütte in dem großen Eimer mit dem Spülwasser befand. Da sieht man, was bei einem solchen Schelmenstreich herauskommen kann.
Seit der Zeit bat der Gutsherr keinen mehr, der bei ihm übernachtete, Märchen zu erzählen.
Das Märchen vom Märchen
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