Das Mädchen

Erst jetzt haben sich die Menschen so vermehrt, daß sie die Erde kaum tragen kann. Früher gab es nur wenige Menschen, aber Land gab es, soviel man haben wollte. Es wurde aber nur wenig Boden bearbeitet, die meisten Menschen lebten nahe den Wäldern. Die Wälder waren endlos groß. Die Menschen siedelten sich an den Flüssen und auf Hügeln an, ebneten rund um die Hütten den Boden und wühlten ihn nur etwas auf. Ringsum aber rauschte Gottes Wald und war seit undenklichen Zeiten so dicht und so dunkel, daß man noch nicht einmal die Nase hineinstecken konnte. Die Menschen gingen in den Wald, um Heilpflanzen zu suchen und süßen Honig zu sammeln. Ging einmal ein Mann in den Wald, so machte er sich Zeichen an die Bäume oder Knoten in die Zweige, um den Rückweg zu finden, denn ohne solche Zeichen verirrte man sich im Dickicht und kam wegen ei-ner Prise Tabak im Wald um. Nur die Räuber hatten keine Angst vor dem dunklen Wald, aber auch sie bauten sich die Hütten lieber irgendwo in der Nähe eines Dorfes.
Ich war damals noch ein Junge von ungefähr zehn Jahren. Einmal trieben wir das Vieh auf die Weide. Es gab dort sehr viele Pilze, und das Vieh lief in den Wald. Wir liefen hinterher, aber wir verloren ein Kälbchen. Auf der Suche nach dem Kälbchen liefen wir durch einen Sumpf und kamen auf eine Insel, und als wir durch den dichten Tannen-wald gekrochen waren, fanden wir eine kleine Hütte und weiter nichts.
Wir gingen in die Hütte, aber dort war niemand. Man sah nur, daß hier jemand gewohnt hatte. Da erschraken wir und liefen schnell davon. Wir erzählten es den Erwachsenen, und diese sahen sich um und sagten, daß dort die Räuber gelebt hätten. Sie seien aber wohl gefangen worden oder vor langer Zeit umgekommen, denn die Speise in den Töpfen hatte schon Blüten getrieben, und an der Schwelle war Gras gewachsen.
Damals lebte mein Großvater noch, und wir baten ihn, uns von den Räubern zu erzählen. Mein Großvater konnte sehr schöne Märchen erzählen. Er konnte es nur nicht leiden, wenn man ihm nicht zuhörte. Es kam vor, daß er zu erzählen begann, aber sofort wieder aufhörte, wenn jemand zu sprechen anfing oder aufstand, um eine Pfeife zu rauchen. So war mein Großvater. Wir setzten also dem Großvater zu, uns von den Räubern zu erzählen. Zuerst wollte er uns nichts erzählen. Er dachte, wir jungen Burschen seien ja noch Kinder und würden ihm nicht zuhören, aber als wir ihn baten und anflehten und fest versprachen, daß wir ihm gut zuhören würden, willigte er schließlich ein, steckte seine Pfeife an und begann zu erzählen. Er sprach ganz ungezwungen. Er sagte zwei, drei Worte, spuckte aus und sagte wieder einige Worte, bis er husten mußte. Wenn er hustete, saßen wir da und bewegten uns nicht. Wir hörten ihm gern zu, er konnte so interessant erzählen. Ich kann nicht so gut erzählen und habe schon viel vergessen, denn das ist alles schon lange her. Sehen Sie, ich habe jetzt graue Haare, aber damals war ich genauso wie Sie, bin auf die Bäume geklettert und habe Nester ausgenommen. Die armen Vögelchen piepsten und schlugen mit den Flügeln, aber wir garstigen Burschen fingen und quälten sie.
Also hören Sie mir zu und unterbrechen Sie mich nicht! Ich erinnere mich an etwas, das sich hier in der Nähe zugetragen hat, und werde es Ihnen erzählen. Der Großvater wußte sogar, wo das war, aber ich habe es inzwischen vergessen. Es ist mir aus dem Kopfe herausgesprungen und ist weg. Aber das macht nichts.
Nicht weit von hier im dichten Wald war einmal ein kleines Dorf, das aus fünf oder sechs Bauernhöfen bestand. Dort lebten die Menschen und blickten auf den Wald, niemand rührte sie an, niemand tat ihnen etwas zuleide, denn es gab im Umkreis von vierzig bis sechzig Kilometern kein anderes Dorf und keine Ortschaft. Die Menschen lebten so frei wie die Vögel. Einmal liefen Jungen tief in den Wald hinein und sahen, daß sich dort Räuber versteckt hielten. Sie erzählten es den El-tern. Die Dorfbewohner forschten nach und erfuhren, daß es sich tatsächlich um böse Menschen handelte, die nicht arbeiteten und kein Vieh züchteten, die aber alles hatten, denn sie stahlen es entweder den Leuten, oder sie raubten es auf den Gutshöfen oder auf den Landstraßen. Da be-schlossen die Dorfbewohner, dem Gutsherrn und der Obrigkeit Bescheid zu sagen.
Inzwischen hatten die Räuber gemerkt, daß die Leute aus dem Dorf sie aufgestöbert hatten, aber sie zogen nicht fort, weil sie glaubten, die Leute würden ihnen nichts Böses antun. Sie hatten ja gar keinen Grund dazu, da die Räuber dem Dorf keinen Schaden zufügten. Aber die Räuber irrten sich, denn die Leute tun einander so mir nichts dir nichts oft Böses an. So lebten die Räuber ruhig weiter und erwarteten nichts Böses. Aber die Gutsherren und die Obrigkeit holten Leute aus dem ganzen Bezirk, Soldaten und Kosaken herbei. Das Gebiet wurde umzingelt und abgesucht.
Als die Räuber merkten, daß man sie fangen wollte, versteckten sie sich in einer Erdhütte und verhielten sich so ruhig, als wären sie gar nicht da. Die Soldaten und Kosaken liefen überall im Wald umher, durchstöberten die Büsche und durchwühlten das Reisig, aber die Erdhütte fanden sie nicht.
Sie durchsuchten den ganzen. Wald, aber es waren keine Räuber da. Es schien so, als seien sie von der Erde verschluckt worden oder hätten sich im Wasser versteckt. Als die Räuber aus der Erd-hütte hervorkrochen, sich die Bärte zwirbelten und durch das Reisig blickten, sahen sie, daß die Soldaten und Kosaken von den Leuten, die in dem kleinen Dörfchen wohnten, durch den Wald geführt wurden.
„Wartet nur, eure Mütter sollen krank werden!“ sagten die Räuber, „das werden wir euch heimzahlen, laßt nur die Soldaten und Kosaken erst weg sein!“
Und so geschah es auch. Die Soldaten und Kosaken waren vergeblich im Walde umhergestreift und durch das Gestrüpp gekrochen. Da gingen sie wieder weiter, dorthin, wo sie gebraucht wurden. Als die Räuber das merkten, krochen sie aus der Erdhütte und überfielen das Dorf. Die Soldaten und Kosaken waren kaum fünf oder sechs Kilometer fort, da hatten die Räuber schon das ganze Dorf in Brand gesteckt und alle Menschen getötet, außer einem kleinen Mädchen, das zu der Zeit im Walde das Vieh hütete. Als die Räuber in den Wald zurückkehrten, trafen sie auf dem Wege das Mädchen. Sie war zwar noch klein, aber so schön, daß man sich an ihr nicht sattsehen konnte. Sie saß auf einem Baumstumpf, flocht einen Kranz aus Blumen und sang Lieder. Das Vieh spitzte die Ohren, lauschte dem Gesang und stand da wie angewachsen. Sogar die Vögel waren herbeigeflo-gen, saßen ringsumher auf den Bäumen und lauschten. Auch die Räuber hörten zu und konn-ten sich nicht bewegen, als hätte das Mädchen sie mit seinem Liede verzaubert. Das Mädchen verstummte und schickte sich an, das Vieh nach Hause zu treiben. Die Räuber folgten ihr, denn sie konnten die Augen nicht von ihr wenden.
Sie trieb das Vieh dorthin, wo das Dorf gewesen war, da aber schlug sie nur die Hände über dem Kopf zusammen. Es gab dort kein Dorf mehr, sondern nur noch schwelende Balken. Sie ging zu der Stelle, wo ihre Hütte gewesen war, dort lagen ihre toten Eltern, Vater und Mutter. Da begann sie zu weinen und sich die Haare zu raufen. Sie wein-te und jammerte laut. „Ach mein Mütterchen, warum hast du mich verlassen? Hat dich ein wildes Tier zerrissen oder ein wilder Mensch getötet? Ach du mein liebes Väterchen, du mein heller Falke, warum schweigst du und antwortest nicht? Warum hast du mich zurückgelassen, ohne daß ich etwas habe noch etwas kann? Ach du mein liebes Mütterchen, wer wird mir jetzt das Köpfchen waschen, wer wird mir jetzt die Löckchen kämmen, und wer wird mir jetzt das Zöpfchen flechten?“
So weinte und jammerte das Mädchen, und die Räuber standen da und hörten zu. Zum ersten Mal blutete ihnen das Herz, bereuten sie, daß sie Menschen umgebracht hatten. Das Mädchen wein-te und war wie versteinert, saß am kalten Körper seiner Mutter und schaute wie abwesend auf sie.
Dann begruben die Räuber die Toten, nahmen das Mädchen mit, trieben das Vieh zusammen und zogen damit in den Wald. Lange mußten sie sich durch das Gestrüpp schlagen, bis sie endlich zu einer Lichtung im Walde kamen, wo sie eine weitere Hütte hatten. Dort stellten sie ein Bett auf, legten das Mädchen hinein, setzten sich um die Hütte herum und saßen da schweigend eine gan-ze, ganze Nacht. Das Mädchen wachte auf, schaute sich um, und als es sich an Vater und Mutter erinnerte, begann es wieder laut zu weinen und zu wehklagen.
Aber soviel sie auch weinte und jammerte, sie mußte sich doch an das Leben bei den Räubern gewöhnen. Die Räuber aber waren von der Zeit an wie verwandelt. Sie hörten auf zu rauben und zu stehlen, sie fingen nur Tiere und Fische, hüteten Vieh und pflegten es. Schließlich begannen die Räuber zu bauen und den Boden zu bearbeiten, um Brot zu bekommen.
Das Mädchen wuchs auf und wurde immer schöner, es wurde so hübsch wie vielleicht kein zweites auf der Welt. Alle Räuber gehorchten ihr und taten, was sie sagte, sie konnten nicht anders, sie mußten es tun, sie mußten gehorchen. Ich glaube, wenn sie ihnen befohlen hätte, ins Feuer zu springen, dann wäre es ihnen auch im Feuer nicht zu heiß gewesen, sondern sie hätten sich dort so wohl gefühlt wie im Paradies.
Aber die Räuber hatten nicht lange das Glück, das Mädchen anzuschauen. Einmal ging sie in den Wald und kam nicht mehr zurück. Solange die Räuber auch suchten, sie konnten sie nicht finden. Es schien ihnen, als sei die Sonne untergegangen, als gingen sie nicht durch den Tag, sondern durch die Nacht, so elend war ihnen ohne das Mädchen zumute. Sie aber war inzwischen zu einem Fluß gekommen. Dort fingen die Menschen Fische, und als sie das hübsche Mädchen erblickten, vergaßen sie alles andere und sahen sie nur immerfort an. Es schien ihnen der Mühe wert, sich ein ganzes Leben lang gequält zu haben, wenn man ein einziges Mal in solche Augen schauen durfte, Augen, die wie die Sonne die Herzen entflammten und zum Brennen brachten und die Menschen so froh machten wie nichts anderes auf der Welt. Als das Mädchen sie ansah, schien den Menschen alles schön auf der Welt, die Sonne schien, das Leben war schön, sie brauchten nichts Besseres.
Da warfen die Fischer ihre Netze hin, setzten das Mädchen in einen Kahn und brachten es in das Dorf. Die Menschen sahen das Mädchen an und dankten Gott, daß er ihnen wenigstens ein-mal im Leben vergönnt hatte, die Süße des Glük-kes zu schauen, zu sehen, daß es auf der Welt nichts Schöneres gibt als den himmlischen Blick eines hübschen Mädchens.
Als der Zarensohn von dem hübschen Mädchen erfuhr, fuhr er hin und nahm sie mit zu Vater und Mutter, um sie zu heiraten. Aber das Mädchen wurde unterwegs krank und starb. Da wurde im ganzen Zarenreich Trauer verkündet.
Das ist schon lange, lange her, aber ein so schönes Mädchen hat es seitdem nicht mehr ge-geben.

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